Der Zaun ist durchschnitten

von Christoph Reichenau 19. Juli 2021

«under construction» heisst das Positionspapier, das für 2021-2024 die Transformation zum neuen Museumsquartier Bern leitet. Die beteiligten Institutionen haben einen Verein gegründet. Sie schaffen eine Brache, um Gemeinsames auszuloten und erste Veränderungen zu erproben.

Ein Büblein wagt sich als Erstes durch das Loch im Zaun, der den Aussenbezirk des Bernischen Historischen Museums (BHM) vom Parkplatz zwischen dem Naturhistorischen und dem Museum für Kommunikation trennt. Die Autos sind bereits verbannt. Eine Installation mit Holzpaletten des Dachverbands für offene Kinderarbeit DOK bildet auf dem Asphalt einen Irrgarten und verhindert schnelle Wege. Mobile Holztoiletten zeigen an, dass hier an die Menschen gedacht wird. Über dem restlichen Zaun ruht, von beiden Seiten mit einer Metalltreppe zugänglich, das Büro der Geschäftsleiterin, Sally De Kunst. Eine Fahne wird gehisst, weiss mit blauen Karos, wie im Schulheft. Sie gemahnt an Flaggen, die bei Expeditionen in neu entdeckte Territorien gerammt werden, Stolz und Besitz zugleich anzeigend.

Bloss eine Lücke

Es ist der 15. Juli, es regnet, und im Regen versammeln sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Museen im Kirchenfeld. Fröhliche Gesichter, freudige Erwartung. Nach ermunternden Worten von Luc Mentha und Jacqueline Strauss, Präsident und Vorstandsvorsitzende des Ende Juni gegründeten Vereins Museumsquartier Bern, wird die Zange angesetzt. Die «Zaundurchhauete», die Strauss mit der «Gansabhauete» an katholischen Orten vergleicht, ist harte Arbeit. Nach der Metalllücke werden zwei kleine Buchenstämme durchsägt, nun ist der Durchschlupf offen, die Durchsicht frei. Das Büblein geht hindurch. Alle machen es ihm nach. Es ist bloss eine Lücke. Doch alles ist anders.

Der Zaun ist durchschnitten, die Flagge gehisst. Eindrücke vom 15. Juli 2021. (Foto: C. Reichenau)

Dass es die Kraft einiger Menschen brauchte für die Zaundurchhauete, steht symbolisch für den Aufwand, der bis dahin nötig war, den ideellen, den strukturellen, den politischen. Den Aufwand, die Menschen zusammenzuführen, zu gewinnen für eine Idee, für das Gemeinsame. Das vielstimmige Lachen und die freudigen Gesichter im strömenden Regen zeigen, dass es gelungen ist.

Die Machbarkeitsstudie

2019 ist die sorgfältig erarbeitete Machbarkeitsstudie von Dieter Bogner, Wien, für das Museumsquartier in Bern vorgestellt worden. Elf Einrichtungen der Bildung und Kultur wollen zusammenspannen, um zwischen Helvetiaplatz und Kirchenfeldstrasse ihr Potential optimal zu nutzen. Die Studie zeigte in erster Linie, was zwischen den Institutionen an inhaltlicher und funktionaler Zusammenarbeit, an qualitativem Mehrwert zu erzielen wäre. Und auch, was auf dem Areal an baulicher Umgestaltung möglich ist: Tiefdepots für die Sammlungsbestände, ein gemeinsamer Zugang für Besuchende, ein grosser Garten inmitten der Häuser und offen auch für das Quartier. Der Gedanke entstand, weil das Bernische Historische Museum (BHM), 1894 errichtet, sanierungsbedürftig ist. Wenn schon gebaut werden muss, sollen auch die Bedürfnisse der anderen Museen und Bibliotheken im näheren Umfeld ermittelt werden. Die Machbarkeitsstudie zeigte, dass Vieles möglich ist, und nannte den Preis für ein städtebauliches Maximalprogramm: 250 Millionen Franken.

Der Preis blieb haften. Weniger in Erinnerung blieb, dass bei der Weiterverfolgung des Projekts zuerst die gemeinsamen, handfesten Interessen der beteiligten Institutionen konkret eruiert und das Committment ihrer unterschiedlichen Trägerschaften eingeholt werden sollte und es das geistige, museumspolitische Fundament zu legen galt. Beides liegt jetzt vor. Im Januar 2021 schlossen die Direktionen des Alpinen Museums, des BHM, des Naturhistorischen Museums und des Museums für Kommunikation ihr Positionspapier ab. Sein Titel: «under construction». Das Motto: «Das Museumsquartier Bern ist der Ort, der Veränderungen in Gesellschaft und Natur untersucht, dokumentiert und das Publikum involviert.»

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Das Positionspapier ist das Ergebnis der Konzeptphase. Seit Sommer 2019 wurde – behindert durch die Pandemie – mit den Mitarbeitenden der Museen eine Vision erdacht und ein Entwicklungsplan für das Museumsquartier aufgestellt. Das Konzept ist bald fertig. Es wird den Weg zum Museumsquartier weisen.

Ein Verein wird konkret

Ende Juni schlossen sich die elf Institutionen zu einem Verein zusammen, dem ohne Stimmrecht auch die Stadt, der Kanton und die Burgergemeinde Bern angehören sowie die Quartierorganisation. Dem Verein obliegt die Verantwortung für die Aufbauphase des Museumsquartiers 2021-2024. Die Bevölkerung soll bald merken, dass «etwas geht». 2022 wird inmitten der Museen der Garten angelegt werden. Geschäftsleiterin und damit treibende Kraft ist Sally De Kunst. Der Verein verfügt jährlich über eine halbe Million Franken plus die Mitgliederbeiträge. Das ergibt ein anständiges Budget für Aktionen, die schon bald Veränderungen hervorbringen und für viele spürbar machen werden.

Die Transformation ist also keine interne Übung, sondern ein öffentlicher Prozess, der allen Interessierten die Teilnahme öffnet – mit Stammtischen, Sprechstunden, Quartierspaziergängen, Ideensammlungen. Die Leute, wir alle, sind nicht erst als Steuerzahler gefragt, wenn es ans Zahlen geht, sondern ab sofort willkommen. Die Brache lebt.

Zweifler

Zweifler finden dieses Vorgehen zögerlich, ja einen Rückschritt auf Feld eins. Sie hätten wohl lieber ein Durchstieren baulicher Massnahmen coûte que coûte ohne fundierte inhaltliche Vorstellung und strukturelle Absicherung, ähnlich wie dies lange Jahre bei der Erweiterung des Kunstmuseums praktiziert worden ist. Eine grosse Idee muss in dieser Logik viel kosten; Beton ist wichtiger als Grips, hohe Summen bezeugen die Bedeutung eines Vorhabens.

Zum Glück ist es hier anders. Nach jahrzehntelanger Vereinzelung wächst man nicht von heute auf morgen zusammen, erst recht nicht, wenn die Thematik der Häuser von der Naturgeschichte über die Alpen, das Schiesswesen, die Kommunikation, Geschichte, das öffentliche Gedächtnis zur neuesten Kunst reicht. Die zahlreichen Schubladen und Vitrinen und white cubes der Wunderkammer bleiben prall gefüllt, es gibt kein Mischmasch, doch die Türen werden ausgeschlossen, die Schubladen herausgezogen, Luft strömt in die Kammer. Die gemeinsamen Kreise wachsen von innen nach aussen.

Was es dereinst braucht an neuem Raum, wird in gemeinsamem Nachdenken und Tun ermittelt, Synergien sind zu erproben. Wenn das klar ist, und erst dann, wird ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben. Was das Bauen dann kostet, ist heute offen. Bald soll es eine Baugruppe geben, die darauf achtet, dass Bauvorhaben einzelner Mitglieder auf ihre Nutzbarkeit für das Ganze anschauen (etwa bei der Sanierung und baulichen Ertüchtigung der Nationalbibliothek).

Abhängigkeiten?

Was bedeutet dies für das Bernische Historische Museum? Muss seine zwingende Sanierung zurückstehen wegen des Museumsquartiers? Nein. Aufgrund eines Strategiepapiers wird der Bedarf debattiert, die Schnittstelle zum Museumsquartier bearbeitet, ausserhalb des Vereins Museumsquartier, aber in engem Kontakt mit diesem. Ob es ein gemeinsames Sammlungsdepot geben soll, ob der orientalische Mosersaal im BHM bleiben muss, ob ein Durchstich vom Helvetiaplatz ins Herz des Museumsganzen die beste Lösung ist, das wird jetzt geklärt.

Die Stadt hat die Neugestaltung des Helvetiaplatzes aus der Investitionsplanung gestrichen. Das zieht keinen Planungsstopp für das Museumsquartier nach sich, verhindert vielleicht aber den idealen Gleichklang.

Die zehn Gebote wurden von Zürich bis Bern zu Fuss transportiert. (Foto: C. Reichenau)

Die Erweiterung des Kunstmuseums wird nicht als Konkurrenz betrachtet. Kontakte bestehen, das Vorgehen unterscheidet sich. Beim Kunstmuseum droht mangels klarer Aussagen, wozu, das Risiko eines Mehr vom Gleichen. Im Museumsquartier ermöglicht der begonnene Prozess, dass Neues entsteht.

Neues? Stets mehr Raum ist für Museen, ist für alle Kulturorte keine Entwicklungsstrategie. Raum bedeutet Betriebskosten, Schadstoffe, Zwang zum Bespielen. Wenn mehrere Häuser zusammenspannen, lassen sich Räume gemeinsam nutzen, die Kadenz der Ausstellungen senken, kuratorische Kompetenzen für Querschnittsfragen und -themen einsetzen für eine Steigerung der Qualität, nicht der Quantität.

Ewig und beweglich

Der Start ist gelungen. Durch den Zaun gelangt man vom BHM problemlos über den nun autofreien Parkplatz zum Museum für Kommunikation. Vor diesem liegen, auf gelben Schubkarren festgezurrt, zehn Steintafeln mit den neuen Geboten der Künstlerbrüder Riklin aus St. Gallen. Durch Wind und Wetter wurden sie zu Fuss und von Hand über 120 Kilometer von Zürich nach Bern gekarrt. «Endure criticism as it drives discourse» steht auf einem Stein; «Keep processes going even if they seem to end» auf einem anderen. Gemeisselte Sätze wie gemacht für das Projekt Museumsquartier – halb für ewig, halb wegrollbar.

Gerade wie die noch niedrigen Kirschbäumchen, die in Holzkuben auf Rollen beweglich die Brache bereits bevölkern in kleinen Gruppen, Wurzeln schlagen wollend und doch unsicher, wo sie morgen stehen werden. Eine Hinterlassenschaft des interimistischen Ideenentwicklers Urs Rietmann.