Der Zauber des Neuanfangs

von Christoph Reichenau 9. August 2021

«Terrain vague» – eine Brache stellt man sich rau vor, unfertig, oft eine Wunde. Dieses «terrain vague» ist das Gegenteil: Edel, gepflegt, behütet. «Brache» ist die Villa Morillon, weil nach rund 300 Jahren abgeschotteter Familiennutzung eine Öffnung hin zur Bevölkerung erprobt wird. Ein Versuch, ehemals patrizisches Wohnen zu demokratisieren.

«Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / der uns beschützt und der uns hilft zu leben.»

Hermann Hesses Gedicht «Stufen» passt wundersam zu dem, was derzeit in der Villa Morillon auf Könizer Boden am Stadtrand geschieht oder besser ausprobiert wird.

Ein Frisching, Berner Patrizier, lässt 1736 vor den Toren der Stadt mit direktem Blick auf das Münster eine Campagne bauen und den Sommersitz später erweitern. 1832-1834 errichtet der junge Architekt Osterrieth im Auftrag eines v. Wattenwyl, mit einer Frisching-Tochter verheiratet, einen grösseren Neubau. Er ist der idealtypischen Palladio-Villa «La rotonda», im oberitalienischen Vizenca am Fluss Brenta gelegen, nachempfunden (1567 gebaut). Später kommen weitere Gebäude hinzu.

Umbau und neue Eigentümer

Die Villa Morillon wurde 1950 innen umgebaut und bis vor ein paar Jahren von der Familie v. Tscharner bewohnt. Das Parterre dient der Repräsentation, dem Wohnen, dem Vergnügen. Im Obergeschoss, zu dem eine überdimensionierte Treppe führt, liegen die privaten Gemächer. Die räumliche Mitte der Villa bildet eine rundum laufende Galerie im 1. Stock, die einen hohen, offenen, keiner direkten Nutzung gewidmeten Luftraum umschliesst. Der symmetrische Grundriss ermöglichte es, vor 70 Jahren das Haus innen völlig umzudrehen und ohne bauliche Änderung den Salon von der Nord- auf die Südseite zu verlegen.

Im Frühling 2021 erwarb der Aargauer Unternehmer Hans Widmer das Anwesen, das zwischen der Morillonstrasse, der Seftigenstrasse und dem BLS-Geleise hinter hohen Bäumen versteckt liegt. Widmer war u.a. Chef von McKinsey und Oerlikon-Bührle. In den 2010er Jahren baute er in Wabern das begrünte Hochhaus «Bächtelen 5», bezaubert von dem, was Gemeinde und Fachleute geplant hatten.

Nun sieht er vor, gegen das BLS-Geleise hin neu zu bauen, die bestehenden Gebäude zu sanieren, einträglich zu nutzen, das Obergeschoss der Villa für Büros zu vermieten – und das repräsentative Erdgeschoss mit eigenen Zuschüssen kulturell zu nutzen. Mitsamt dem weitläufigen Park darum herum entsteht so eine Oase, die zum Innehalten und Sinnieren einlädt und sich ideal für kleinere kulturelle Anlässe eignet.

Sanierung und Kulturnutzung

Für das Umgestalten und Bauen läuft ein begleitetes Verfahren. Ende 2021 soll die Villa Morillon saniert und restauriert werden. Bis dann wird die kulturelle Nutzung erprobt. Stefan Eicher gab Konzerte im Park, wohnte mit den Musikern in der Villa und nahm dort ein Album auf. Die Neuausgabe von Carl Seligs «Wanderungen mit Robert Walser» wurde vorgestellt, Kaspar Zehnder, Ana Oltean und Vital Frey musizierten. Der Perkussionist Simon Baumann verlegte zwei Konzerte vom Niederhorn unter die Parkbäume.

Auf der Website ist ein vielfältiges, im Wortsinn anmächeliges Programm bis Oktober zu entdecken. Darunter «Tafeln im Morillon» wie in den 1950er Jahre (13. August), Lesungen mit Livia Anne Richard und Musikern (20. und 25. August), Bachs Goldberg-Variationen gespielt von Oliver Schnyder (28. und 29. August) sowie Lesungen von Lukas Hartmann aus den Romanen «Der Sänger» (mit Oliver Schnyder) und «Schattentanz» (mit Katharina Ammann, die über den Maler Louis Soutter spricht, Hartmann Romanfigur) am 30. August bzw. 7. September. Später werden Li Mollet lesen und Heinz Mollet bildnerisch in der Porträtgalerie der Villa intervenieren. Und die Freitagsakademie will Ende September im Morillon zwei Konzerte geben; ihre Musikerinnen und Musiker werden in der Villa wohnen.

Das Programm ist ein Testlauf und ein Versprechen für die Nutzung ab der Neueröffnung des Hauses und des Parks im Herbst 2022. Hans Ulrich Glarner, Vorsteher des kantonalen Amts für Kultur, berät das Eigentümerpaar Elisabeth und Hans Widmer. Er ist der spiritus rector und das Mädchen für alles in der laufenden Erprobung. Für den Ernstfall nach der Sanierung will er einen Trägerverein initiieren, eine breitere Verankerung in der Nachbarschaft und darüber hinaus, um aus der weitgehend privat finanzierten Nutzung einen allgemeinen Nutzen zu machen.

Neue Schwerpunkte

Inhaltlich sieht Glarner drei Themen der Kulturnutzung: die Teilhabe Vieler an der Konzeption und der Ausführung des Programms; den Bezug auf den Ort und seine Lage (Stichwörter: Campagne, Köniz, regionale Partnerschaften); schliesslich eine Hinwendung zum Französischen, das in der näheren und weiteren Umgebung gesprochen und geschrieben wird.

Im Vordergrund sein werden die Musik, vorwiegend in kleinen Formationen; das Wort, die visuelle Kunst. An letzterer ist die Gemeinde Köniz mitinteressiert, die kaum über Ausstellungsräume verfügt.

Bei der Wahl der Themen wird auf die Geschichte, die Atmosphäre und die Architektur der Villa geachtet. Ehedem patrizisches, später bürgerliches Leben im Morillon soll erlebbar werden – die Möbel, Bilder, Teppiche, das Geschirr sind Dauerleihgaben der ehemaligen Eigentümerschaft zum Gebrauch. Der Salon soll wieder «Salon» werden mit Gesprächen in kleinerer Runde, aber auch mit Konferenzen. Und alles durchdringen wird der Genuss: kulinarisch, geistig, ganzheitlich. Der Ort an sich wird das Programm bestimmen.

«Ganzheitlich» ist wichtig. Der Park ist Teil der Villa, die Villa seelenlos ohne Park. Die grossen alten Bäume, die weiten Grasflächen mit hingetupften Blumenseelein, die Brunnen, der runde Weiher mit dem bemoosten Tuffstein, aus dem die Wassersäule springt – hier kann man atmen. Künftig wird diese Seelenerweiterung allen zugänglich sein, zumindest vor Veranstaltungen. Ein «terrain vague de l’âme» mit oder ohne Kunst. Oder besser: als Kunst an sich.