Der YB-Stürmer unter dem Mercedes

von Urs Frieden 29. Oktober 2015

In diesen Tagen erscheint das Nordquartier-Buch «Nordbern». Lesen Sie hier den Beitrag von Urs Frieden über den Fussball im Breitenrain.

Als es die Autobahnen rund um Bern noch nicht gab, also bis weit in die 1960er Jahre hinein, bestaunten wir Lorraine-Kinder vor und nach jedem fussballerischen Grossereignis stundenlange Staus am Nordring. Wir wussten anhand der Autonummern, Fahnen und Gesänge immer, wer da gegen wen im Wankdorf spielte. Zum Beispiel bei Länderspielen, YB-Spitzenkämpfen oder im Cupfinal am Ostermontag. Die öV-Anfahrt war noch nicht im Ticket inbegriffen, und die Autos parkierten auf dem Rasen der Grossen Allmend, kunstvoll aufgereiht, bis fast kein Grün mehr sichtbar war. Eine Blechparade, die für Kinder eine gewisse Faszination ausstrahlte, zumal der Umweltgedanke diesen Reiz noch nicht im Keim erstickte.

Doch auch zu Fuss kamen die Fans, lärmend und rauchend durchs Lorrainequartier, parallel und in Interaktion zum Stau. Fanmärsche waren noch nicht verboten. Allerdings wurden auch noch keine gefährlichen Böller gezündet. Das Schreckenspotenzial war ohnehin gering, und so konnten wir Lorraine-Kinder mit den verschiedensten Fans ein Schwätzchen am Gartenzaun abhalten. Zigarettenfirmen sponserten damals Vereinsfähnchen mit Spielerporträts drauf, eine Art Paninis zum Schwenken. Die beschafften wir uns natürlich auch. So kam es, dass wir 1968, beim Europacup-Wiederholungsspiel Juventus Turin gegen Eintracht Braunschweig (1:0) abwechslungsweise den deutschen und italienischen Fans mit den jeweils passenden Fähnchen zujubeln konnten.

«Man liebe den Schiedsrichter!»

Auch im Stadion selber, wo ich mit zunehmenden Alter immer mehr anzutreffen war, gings meistens friedlich zu. Die obligaten Platzstürme nach dem Spiel hatten selten negative Folgen. Es ging in der Regel ums Mitjubeln mit den eigenen Idolen, die man auf den Schultern vom Platz trug, und nicht ums Niedermachen des Gegners, für den man ungestraft Bewunderung pflegen konnte, zum Beispiel für die «Könige der Nacht» aus Lausanne. Das schlimmste, das ich in meinen Jugendjahren erlebte, waren Bierflaschenwürfe aufs Feld (es gab keine Risikospiele, Alkohol und Glasflaschen waren erlaubt). Selbst die Transparente waren friedlicher. In der Flower-Power-Phase gab es sogar eines mit der Aufschrift «Man liebe den Schiedsrichter».

Der Kontakt zu den YB-Idolen gestaltete sich damals sehr einfach. Die Trainings der ersten Mannschaft fanden meistens gegen Abend auf den nicht mehr existierenden Wankdorf-Nebenplätzen statt (Papiermühle, Sempacher, Zeughaus). So konnten wir die Spieler auf dem Weg in die Garderobe, die sich unter der Haupttribüne befand, um Autogramme bitten. Zudem wussten wir von den meisten Spielern, wo sie wohnten und arbeiteten. Und wo wir sie werktags am besten abfangen konnten. Zum Beispiel Walter «Wale» Müller, der legendäre YB-Mittelstürmer, bester Kopfballspieler aller Zeiten und Torschützenkönig 1971 – er arbeitete als Automech in der Mercedes-Garage am Dammweg (heute ist dort ein Fitnessclub untergebracht). Wir fragten einfach am Eingang nach ihm, und schon kroch er unter einem defekten Mercedes, den er gerade reparierte, hervor und gab im blauen Übergewand bereitwillig Autogramme. Eine klassische Selfie-Situation. Aber die Iphones waren zum Glück noch nicht erfunden.

«Salaud!»

«Wale» spielte leider nur ein einziges Länderspiel, auswärts gegen Spanien, denn die sich fleissig abwechselnden Nationaltrainer hatten ja alle keine Ahnung. Müller war auch bei den Medien unbeliebt, weil er sehr einsilbig war und extrem ruppig spielte – heute würde man lobend sagen: «ein Aggressivleader» Ein welscher Radioreporter nannte Müller in einer Livereportage geradeheraus «salaud», was heute im Zeitalter der Gegendarstellungen und Konzessionsbeschwerden nicht mehr denkbar wäre. Damals ein kleiner Shitstorm (auch dieses Wort war noch nicht erfunden), der in einem angedrohten Stadionverbot für den Reporter endete. Müller gehört bis heute zu den wenigen YB-Spielern, die einen eigenen Fansong bekamen: «D’Müllere hett, si hett, d’Müllere hett es Gööli gmacht.» Und Kunstmaler Hans Stalder aus der Lorraine liess sich noch Jahre später zu einem Porträtbild animieren.

Ja, das Nordquartier! Wir haben sogar das Headquarter einer Fussball-WM zu bieten. Denn: Die Weltmeisterschaft 1954, mit den berühmten Final Deutschland-Ungarn (3:2) im Wankdorf, wurde in einem Gebäude an der Optingenstrasse (Nähe Kursaal, heute kantonales SVP-Sekretariat) organisiert. Man stelle sich das vor: Die Schaltzentrale des Weltfussballs bei uns im Breitsch. Übrigens: Der Umsatz der WM 1954 betrug damals nur 5,6 Millionen Schweizer Franken. Und auch die Wertschöpfung für Bern war abgesehen vom Imagegewinn nicht gigantisch. Deutschland wohnte in Spiez, Ungarn bereitete sich in Solothurn vor. Überhaupt wohnte kein einziges Team während der WM in der Stadt Bern. Die Schweiz und Brasilien zum Beispiel logierten in Magglingen.

Ganz anders 1990 YB’s kolumbianische Starverteidiger Andres Escobar: Er war sich nicht zu schade, ein halbes Jahr im Hotel Waldhorn (mitten im Spitalacker) zu logieren und sogar die TV-Teams im nicht mehr existierenden, für seine Kegelbahnen geschätzten Restaurant gleichen Namens zu empfangen. Vier Jahre später erlangte er auf traurige Weise Weltruf: Nach dem Ausscheiden an der WM 1994 in den USA (Escobar verschuldete ein Eigentor) wurde er in seiner Heimat ermordet. Wenn ich das Hotel Waldhorn führen würde, hätte ich längst eine Gedenktafel montiert.

«Der Spitz» – Länderspiele auf dem Spitalacker

Seit weit über hundert Jahren ist das Berner Nordquartier eine Fussball-Hochburg. Wankdorf, kommt einem da sofort in den Sinn. Aber: Anfang des letzten Jahrhunderts kickten die Young Boys zuerst auf der Allmend, später auf dem Exerzierplatz der Kaserne, und ab 1904 auch auf dem Spitalacker, wenn dort nicht gerade wie während der Weltkriege Kartoffeln angebaut werden mussten. Auf dem «Spitz» fanden in den 20ern sogar drei Länderspiele statt, darunter ein Kantersieg gegen Holland. Die Holztribüne war damals bedeutend grösser, und im weiten Rund fanden 10’000 Zuschauer Platz.

Noch heute strahlt der «Spitz» ein wunderbares Ambiente mit fast denkmalpflegerischem Charme aus. Aber ein paar Sachen sind dazu gekommen: der ehrenamtlich betriebene Grill, das Kunstrasenfeld, ein VIP-Häuschen, der Burkhalter-Cup, der FC Breitenrain (vormals Zähringia und Minerva) in der semi-professionellen Promotionsliga – und die Lärmproblematik, mit einem ehemaligen Bauinspektoren in der Nachbarschaft, der emotionale Regungen wie Torjubel und Schiri-Pfiff aus der Wohnzone verbannen möchte. «Football’s coming home» – auch zu Ihnen, Herr Graf!

Wankdorf: Hup, Holland, hup!

Nach der Spitalacker-Phase startete YB im Jahr 1925 die Wankdorf-Aera, mit dem ersten von bisher drei Stadionbauten. Nebst der erwähnten WM 1954, einzelnen Europacup-Finals, Länderspielen, Cupfinals, Schwingfesten und Rockkonzerten, gehört mit Sicherheit die EURO 2008 zu den ganz grossen Wankdorf-Highlights. An allen drei Wankdorf-Spielen waren die Holländer beteiligt, mit drei überragenden Siegen gegen Italien, Frankreich und Rumänien. Das erste Spiel ausserhalb Berns überlebte die «Elftal» nicht – Niederlage gegen Russland in Basel…

Für uns BernerInnen unvergesslich, insbesondere für diejenigen aus der Fanachse Nordquartier, sind die friedlich feiernden, zehntausenden von Oranje-Fans. Sie bevölkerten vor allen drei Spielen die Innenstadt, um sich dann via Kornhausbrücke (die seither auch als «Korenhuisbrug» angeschrieben ist) und Moserstrasse in Richtung Wankdorf zu begeben. Ich habe weder vorher noch nachher den abgedroschenen Begriff «Völkerverständigung» so realistisch und hautnah im Fussball erleben dürfen.

Auch das ist Nordquartier: HalbZeit und Fanarbeit

Im Nordquartier sind auch zwei Institutionen entstanden, die weit über das Quartier hinaus wirken. So befinden sich das Lokal der anti-rassistischen Fussballfans «HalbZeit» und das Büro der Fanarbeit Bern an der Beundenfeldstrasse 13. Als Mitgründer dieser beiden Institutionen bin ich allen, die seit Jahren diese nachhaltige Arbeit leisten, sehr dankbar. Auch den BewohnerInnen des Nordquartiers gebührt ein Lob: dass sie diese Fan-Initiativen seit Jahren tolerieren und unterstützen. Und das in einer Zeit, wo man sich aufgrund der medialen Berichterstattung nicht mehr dazu verpflichtet fühlen müsste.

Auf europäischer Ebene sind die HalbZeit-Leute ebenfalls aktiv. So waren wir 1999 in Wien Mitgründer von FARE (Football against Racism in Europe), einer grossen Dachorganisation, die heute mit der Uefa zusammenarbeitet und jeden Oktober mit den FARE Action Weeks in ganz Europa Beachtung erhält. Auch die Liga und allen voran YB machen bei dieser Aktionswoche regelmässig mit und tragen während des FARE-Spiels Trikots mit der Aufschrift «Gegen Gewalt und Rassismus».

Inzwischen ist der im Nordquartier entstandene HalbZeit-Slogan «Gemeinsam gegen Rassismus» in der englischen Version («Unite against Racism») bei jedem UEFA-Spiel (Champions League, EURO) auf Banderolen und Captainbinden zu sehen. Vom Nordquartier auf die ganz grosse internationale Fussballbühne – da dürfen wir doch ein wenig stolz sein, oder?