Der Wunsch nach Privatsphäre

von Sarah King 11. April 2014

O. stammt aus Nigeria, ist ein Mann und liebt einen Mann. Das ist sein Schicksal. Im Gefängnis denkt er darüber nach. Er hat Zeit – oder zumindest ein Gefühl für Zeit.

Hinter einem Fenster sitzt O. (Name der Redaktion bekannt) und wartet darauf, dass es 14 Uhr wird: Besuchszeit. Noch zehn Minuten, bis es soweit ist. In der Genfergasse in Bern ist es still. Der Schriftzug des Regionalgefängnisses wirft einen Schatten auf die freistehende Mauer vor dem Haupteingang. Vier Frauen warten neben dem Empfangsschalter, blicken aneinander vorbei oder auf das Handy.

Den Vater zum Feind

Hinter dem Schalter erscheint eine uniformierte Frau. Sie bittet um den Ausweis, den Grund des Besuchs, den Namen des Häftlings. Sie klingen fremd, die Namen der Inhaftierten aus Nigeria zum Beispiel, O.’s Heimatland. Den Namen seines Geburtsdorfes wird er später gut lesbar in sein Notizbuch schreiben und an die Scheibe halten.

Der Ort ist schwierig auszusprechen, wie «Tägertschi» für einen Ausländer vielleicht, nur weicher im Klang. Für O. wurde er zur Qual. Der Priester im Dorf sei sein «grösster Feind». Wie alle anderen Dorfbewohner richtete er seinen Hass gegen O. Der Häftling wird kurz aufschauen und in den Augen seines Gegenübers nach der Bestätigung suchen, ob er fortfahren soll.

«Ich bin homosexuell, das ist mein Problem.» So hat er es in der Vergangenheit den Schweizer Behörden geschildert, seinen Freunden, den Medien. Dass der Priester sein Vater ist – darüber wird er die Schultern zucken, begleitet von einem «aiaiai», nach Worten suchend, um schliesslich stumm den Kopf zu schütteln.

Fünf Türen von der Genfergasse entfernt

Jetzt ist O. noch unterwegs von seiner Zelle in die eine Hälfte der Besuchskabine. Von der gegenüberliegenden Seite des Gebäudes gelangen Besucher in die andere Hälfte. Der Weg führt von der Strasse in einen Vorraum mit Schliessfächern, durch einen Raum mit Metalldetektor bis in den Warteraum, der mit seinen Holzbänken an eine Sauna erinnert.

Eine Besucherin setzt sich leise. Einmal wirkt es, als wolle sie etwas sagen, aber sie schweigt. Ein Wächter ruft. O. sei bereit. Hinter dem Wächter erstreckt sich ein schmaler Flur mit kleinen Kabinen. «Alles topmodern», lächelt er.

Auch O. lächelt in der Kabine Nr. 1, fünf Türen von der Genfergasse entfernt. Einen Moment lang drückt der 35-Jährige seine Hand an die Scheibe. «Danke!» Er sagt das Wort, obwohl er nicht weiss, wie er «je danken kann». Das schreibt er in einem Brief an das Unterstützungskomitee Liberty for O.

Das Komitee habe sich am 23. März nach O.’s Festnahme gebildet und kämpfe seither öffentlich für O.’s Freiheit und für seine Anerkennung als Flüchtling, sagt Komitee-Mitglied Amanda Baghdassarians. «Der Asylentscheid verstösst gegen die Menschenrechte. In seinem Heimatland droht O. schlimmstenfalls der Tod.»

Ein Kraut für ungewollt kinderlose Frauen

O. redet wenig über den Asylentscheid. Er erzählt von seiner Arbeit als Naturheilpraktiker in Nigeria. Er sei ein guter Doktor gewesen, konnte mit seinen Kräutern Entzündungen lindern und kinderlosen Frauen zu Fruchtbarkeit verhelfen. Im Dorf und auch ausserhalb habe er viel Ansehen genossen. Sein Rücken bildet eine gerade Linie, während er erzählt, seine Gesten füllen die Kabinenhälfte. Warte!, denkt man und hört gleichzeitig das Wort verklingen.

Die Zeit läuft. 30 Minuten. Jede Minute darüber hinaus wird von der zweiten halben Stunde abgezogen, die O. pro Woche für Besuch zur Verfügung hat. «Es ist in Ordnung», sagt O.. «Wir haben noch 13 Minuten.» Er trägt keine Uhr, die Wände in der Kabine sind zeitlos. «Ein Gefühl», erklärt er.

Warum die Flucht aus Nigeria? O. erhebt sich von seinem Stuhl, zieht sich das T-Shirt über den Kopf und legt den Grund frei: Zwei dicke Narben ziehen über seinen Rücken, beide schätzungsweise fünf Zentimeter lang. «Mein Freund verbrachte Zeit mit mir im Haus. Die Leute im Dorf haben das erfahren.

Sie fesselten mir die Hände hinter dem Rücken.» Er beschreibt die Gewalt, wird lauter, spricht schnell in gebrochenem Englisch. Die Dorfbevölkerung drohte ihm mit dem Tod, allen voran sein Vater. So sei er 2005 mit dem Freund in die nigerianische Grossstadt Lagos geflüchtet. Auch dort habe man sie aufgespürt. Die Flucht ging weiter über Marokko, Spanien bis zum Fingerabdruck in der Schweiz.

Von der Wahrheit ausgehen

Der Fingerabdruck bleibt eine flüchtige Spur, O.’s Anwesenheit illegal. Er beschreibt den Behörden die Situation in Nigeria. Homosexuelle werden diskriminiert. In Bezug auf Nigeria bedeutet «Diskriminierung» gemäss Pressmitteilungen von Amnesty International aus dem Jahr 2013: 14 Jahre Haft für diejenigen, die gleichgeschlechtliche Partnerschaften eingehen, 10 Jahre Haft für jene, die über eine solche Partnerschaft in Kenntnis sind und sie unterstützen. Betroffene müssten Drohungen, Erpressungen und tätliche Attacken über sich ergehen lassen. «Ein Teufelskreis, der nicht selten tödlich endet», schreibt Amnesty International.

«Meine Sexualität diskret ausleben, das kann ich nicht! Ich will leben.»

O.

Dennoch: O.’s Asylgesuche 2010 und 2013 wurden vom Bundesamt für Migration (BFM) abgelehnt. Später auch der Rekurs vom Bundesverwaltungsgericht (BVG). Die den Gesuchen beigelegten Dokumente seien keine ausreichenden Belege für O.’s Homosexualität. Auch wenn sich die Homosexualität bewahrheiten würde, sei das Recht auf Asyl nicht gegeben. So steht es im Antwortschreiben vom BFM.

Anders urteilen die Mitglieder der Gruppe «Focus Refugees» von Amnesty Schweiz. Sie begleiten Asylsuchende, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität geflüchtet sind. «Wir gehen davon aus, dass uns die Menschen, die uns aufsuchen, die Wahrheit sagen», sagt Regula Ott.

«Der Kontakt mit uns hat schliesslich keinen Einfluss auf den Ausgang ihrer Asylverfahren.» Ausserdem könne sich die Gruppe in mehreren Begegnungen ein gutes Bild vom Menschen machen. Von O.’s Homosexualität sei sie überzeugt.

Bedrohung konkret nachweisen

«Wie soll ich beweisen?» O. fährt sich mit den Händen über den Kopf. Zum zweiten Mal weichen Worte dem «aiaiai». Weniger sprachlos ist er beim Gedanke, seine Homosexualität in Nigeria «diskret» auszuleben, wie es das BFM im Antwortschreiben 2013 vorschlägt. «Das kann ich nicht! Ich will leben.» Weitere Argumente bleiben wegen seines Sprechtempos schwer verständlich.

Unmissverständlich sind dagegen die Worte von Peter Gehrig, klinischer Sexologe am Zürcher Institut für Sexologie und Sexualtherapie (ZISS). «Die Antwort dieser Behörden ist schlichtweg eine Dummheit.» Der Begriff Homosexualität sei ausserdem missverständlich, da diese Frauen und Männer nicht nur ihre Sexualität frei leben möchten, sondern auch heiraten, Familien gründen und sich öffentlich küssen wollen.

Auf Anfrage beim BFM erklärt die Mediensprecherin Sibylle Siegwart, das Argument «diskret ausleben» sei veraltet und sollte seit vier Jahren nicht mehr in Asylentscheiden verwendet werden. Aus Datenschutzgründen gibt sie keine Auskunft zu Einzelfällen, so bleibt unbegründet, warum das Argument vor ein paar Monaten zum Einsatz kam.

«Grundsätzlich prüfen wir immer den Einzelfall. Bei einem Entscheid wird einerseits geprüft, ob die Schilderung glaubwürdig ist und ob die Person aufgrund der sexuellen Orientierung in ihrem Heimatland gezielt verfolgt wurde oder ob ihr gezielte Verfolgung droht.»

O. verschränkt die Arme. Er will nicht an die Bedrohung denken. Sein Freund sei kurz nach der Ankunft in der Schweiz nach Nigeria zurückgeführt worden. «Dort geben sie mir die Schuld an seiner Homosexualität. Ich hätte einen negativen Einfluss.» O. möchte nicht, dass sein Freund von der Gefangenschaft weiss. «Sonst ist er traurig.» Er redet nicht weiter darüber, «um selbst nicht traurig zu sein», wie er sagt.

Dass die Unterdrückung der Grundbedürfnisse traurig machen kann, beschreibt Patrick Wirz, Psychotherapeut aus Zürich: «Die einen kommen klar damit. Andere leiden massiv, können depressiv werden oder gar suizidal.» O. schüttelt den Kopf. An Suizid habe er einmal gedacht in einem Moment, wo ihm alles zu viel wurde. «Aber dann dachte ich an die Menschen, die für mich kämpfen. Ich las eine Karte von Freunden und realisierte: Ich bin nicht alleine.»

Moringa Oleifera

Es klopft. Ein Wächter öffnet die Tür. «Zwei Minuten noch.» Leise zieht er die Tür wieder zu. Zwei Minuten. Wie weiter? O. denkt nach. Wie lange sie ihn noch im Gefängnis behalten, weiss er nicht sicher. Auch nicht, was danach mit ihm geschieht. Aber einen Wunsch hat er: «Mehr Privatsphäre.»

Plötzlich öffnet er sein schwarzes Notizbuch und schreibt hastig zwei Wörter «Moringa Oleifera.» Er schiebt das Buch an die Scheibe. «Das findet man im Internet.» Die Tür öffnet sich. Die Grussworte klingen auf einmal dumpf, als würden sie an der Glasscheibe abprallen. O. zieht fragend die Augenbrauen hoch. «Ich verstehe nicht.»