Zu Beginn der Ausstellung treffen die Besucherinnen und Besucher auf vier Bildschirme. Sie zeigen vier Menschen, die in der Schweiz leben und von ihren Migrationserfahrungen erzählen. Die Kuratorinnen und Kuratoren sind offensichtlich bemüht, das abstrakte Thema Migration auf den Alltag und die Geschichte der Menschen anzuwenden. Das gelingt sehr gut. Keine langfädigen Definitionen, sondern verständliche Beispiele aus dem Alltäglichen führen durch die Ausstellung.
Eine der ersten Informationstafeln rät, dass die Besucherschaft am besten dem Teppich folgt, um dem chronologischen Aufbau der Ausstellung gerecht zu werden. Das ist jedoch nicht zwingend notwendig, erfährt man weiter, denn die Botschaft der Ausstellung werde auch durch freies Rumlaufen verständlich. Das Interesse wächst. Das BHM möchte den Besucherinnen und Besuchern also eine Botschaft in der Migrationsthematik mit auf den Weg geben.
Ein Gang durch die Ausstellung
Ein farbiger Teppich leitet die Gäste durch die Ausstellungsobjekte. Werkzeuge, Schmuckstücke, Bootsmodelle der ersten Menschen in der Schweiz und aus anderen Gegenden der Welt zeichnen die Spuren der Migrationsgeschichten nach. Neben diesen klassisch ausgestellten Objekten lassen sich ebenfalls Kurzfilme und Hörbeispiele finden. Die Inszenierung der Objekte und die Wiedergabe des Wissens über verschiedene Medien ist bemerkenswert. Zwei Millionen Jahre Geschichte herunterzubrechen und publikumsgerecht wiederzugeben ist eine Kunst, welche dem BHM hier gelungen ist.
Thematisch muss sich die Ausstellung nun stark auf einzelne Repräsentationen reduzieren.
In der zweiten Ausstellungshälfte liegt der Fokus auf der Migrationsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Die Probleme und Herausforderungen, vor welchen die ersten italienischen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter standen, gelangen ins Zentrum und werden mit der aufkommenden Xenophobie in den 1960er Jahren in Zusammenhang gebracht. Der Diskurs über die angebliche Überfremdung fand in der politischen Auseinandersetzung um die Schwarzenbach-Initiative einen Höhepunkt. Der Verdichtung der zeitgeschichtlichen Ereignisse folgend, geht es in dieser Phase der Ausstellung Schlag auf Schlag. Erfolgsgeschichten italienischer Einwanderinnen und Einwanderer werden dargestellt, der wegweisende Teppich liegt auf engem Raum und die Objekte stehen gedrängter.
Thematisch muss sich die Ausstellung nun stark auf einzelne Repräsentationen reduzieren, um den szenografisch eindrücklich umgesetzten politischen wie räumlichen Verengungen der Zeit Rechnung zu tragen. Standen die Gäste anfangs noch vor einem globalen Zusammenhang, beschäftigen sie sich nun mit einer durch die Immigration geprägten Schweiz. Dazu gehören, neben den Italienerinnen und Italienern, ebenso jene Bevölkerungsgruppen, welche die Schweiz heute noch bewohnen. Beispielsweise fanden Menschen aus ehemaligen sowjetischen Staaten wie Ungarn oder der Tschechoslowakei, aus den Westbalkanstaaten, aus Tibet und Eritrea in der Schweiz ein neues Zuhause. Jeweils ein Artefakt repräsentiert hier die vielen Bevölkerungsgruppen der Schweiz. So werden die ab den 1980er Jahren in der Schweiz lebenden Tamilinnen und Tamilen schlicht durch die Gottesstatue Ganesha repräsentiert.
Das Problem heisst Repräsentation
Allmählich wird deutlich, was den roten Faden ausmacht, der sich durch die Ausstellung zieht. Es geht um die Frage nach der menschlichen Identität. Die Ausstellung ist so konzipiert, dass den Gästen bewusst wird, dass in jedem von uns mehr oder weniger Migration steckt. Der gemeinsame Nenner der vielen Menschen, die den Globus und die Schweiz bevölkern, ist die Migration. Hier endlich die angekündigte Botschaft der Ausstellung. Dagegen ist erstmal nichts auszusetzen. Die aktuelle Diskussion um Migration spaltet die Gesellschaft. Das BHM versucht mit einer auf Gemeinsamkeiten betonten Ausstellung dem entgegenzuwirken. Die Umsetzung dieser löblichen Intention scheitert jedoch.
Die Ausstellung verwischt nämlich die Grenze zwischen Menschen mit aktueller Migrationserfahrung und jenen, deren Migrationserfahrung Generationen zurückliegt. Verschiedene Lebensrealitäten werden zu einer gemeinsamen Migrationsgeschichte pauschalisiert. Damit werden gegenwärtige Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten ein Stück weit ignoriert. Viele Menschen werden jeden Tag, auf dem Weg zur Arbeit, bei der Wohnungssuche, bei Bewerbungsgesprächen auf ihren Migrationshintergrund angesprochen oder dementsprechend behandelt, entweder aufgrund ihrer Hautfarbe oder aufgrund eines fremd klingenden Namens. Für diese Menschen bedeutet die Frage «Woher stammst du wirklich?», markiert zu werden – und zwar als das Andere, das Fremde. Diese Realität wird von Menschen mit Migrationserfahrung, welche mehrere Generationen zurückliegt, gar nicht oder anders erfahren. Eine auf Gemeinsamkeiten zielende Migrationsausstellung wird den vielschichtigen Migrationserfahrungen nicht gerecht.
Die viel wichtigere Frage lautet: Wer entscheidet über die Zugehörigkeit zu dieser «Schweizer Identität»?
Damit hängt auch zusammen, dass die zweite Ausstellungshälfte in ein nationales Korsett gedrängt wird. Hier geht es plötzlich darum, was «die Schweizer Identität» ausmacht. Das BHM will aufzeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund Teil dieser nationalen Identität sind. Das stimmt sicherlich, aber die viel wichtigere Frage lautet: Wer entscheidet über die Zugehörigkeit zu dieser «Schweizer Identität»? Eine Antwort auf die Frage wäre: Die Betroffenen selbst. Wo sind eigentlich die Stimmen People of Colors in der Ausstellung ‘Homo Migrans’? Die Stimmen geflüchteter Menschen fehlen ebenfalls.
Es reicht nicht, auf eine Infotafel zu schreiben: «Den zu Beginn schlechten Ruf widerlegten Tamilen und Tamilinnen durch Fleiss und Freundlichkeit.» Hier beansprucht das BHM die Definitionshoheit für sich, statt die Subjekte der Ausstellung selbst zu Wort kommen zu lassen. Es werden Menschen repräsentiert und in einen Kontext zu Migration gestellt, zu welchem sich die Betroffenen nicht äussern konnten, obwohl diese Menschen direkt vom Diskurs um Migration betroffen sind. Aus dieser Definitionslogik treten neue Fragen zu Tage: Wer sind dann die Migrantinnen und Migranten, die ihren schlechten Ruf nicht ablegen konnten? Wer definiert was ‚ein schlechter Ruf’ ist? Bedeutet das etwa, nur eine erfolgreiche Migrantin ist eine gute Migrantin?
Das Ausstellungsteam hätte die Möglichkeit gehabt, die in der Schweiz gängigen und traditionell vorherrschenden Bilder über Menschen mit Migrationserfahrungen zu hinterfragen und neu zu zeichnen. Leider verpasste das Team diese Chance. Stattdessen werden kulturelle Zuschreibungen am Ende der Ausstellung wieder hervorgehoben. Die vier Menschen, die wir zu Beginn kennenlernten, begegnen uns am Schluss wieder. Anhand eines DNA-Tests erfahren sie, woher ihre Vorfahren kamen. Das Museum lässt den Besuchenden offen, was sie am Ende aus den Ergebnissen des Tests schliessen. Doch gerade dadurch erhalten Aussagen, in denen kulturelle Zuschreibungen an die eigene genetische Herkunft gebunden werden, eine dominante und unkommentierte Position.
Wer definiert hier wen?
In Zeiten von #metwo und #vonhier kämpfen Menschen mit dunkler Hautfarbe und mit Migrationserfahrung für Sichtbarkeit und Respekt in der Öffentlichkeit. Dabei treffen sie auf Widerstand, aber auch auf grosse Solidarität. Dieser alltägliche und zehrende Kampf wird nicht thematisiert. Nicht zuletzt ist dies der Grund, weshalb das Gefühl aufkommt, dass hier ein weisser Blick auf die Migrationsgeschichte der Schweiz geworfen wird.
Bei den Bildern handelt es sich um Kompositionen von europäischen Fotografinnen und Fotografen, die nicht die Wirklichkeit abbildeten.
Das BHM hat jedoch nicht nur in der Homo Migrans-Ausstellung ein Repräsentationsproblem von People of Color. Dieser Eindruck wird in der Dauerausstellung «Kulturen in Asien und Ozeanien» verstärkt: Kolonial inszenierte Fotografien werden ausgestellt, ohne dass diese für die Besucherinnen und Besucher in einen zwingend notwendigen historischen Kontext gestellt werden. So reproduziert das Museum koloniale Bilder und bedient den Voyeurismus. Was der informative Mehrwert davon ist, schwarzweisse Fotos halbnackter Menschen in traditioneller Kleidung vor einem Dschungel auszustellen, stünde zur Diskussion. Doch solche Fotografien unkommentiert in einem Museum zu platzieren, bewegt sich heute jenseits der Grenze des Darstellbaren.
Bei den Bildern handelt es sich um Kompositionen von europäischen Fotografinnen und Fotografen, die nicht die Wirklichkeit abbildeten, sondern ihre (weissen) Vorstellungen einer Lebensrealität der Einheimischen inszenierten. Ins gleiche Muster fällt die Ausstellung «Indianer – Vielfalt der Kulturen in Amerika». Auch hier wird ein koloniales Bild bedient, das sich fest in den Köpfen vieler Menschen eingebrannt hat, anstatt Vorstellungen über fremde Kulturen kritisch zu hinterfragen und so einen Denkprozess der Museumsgäste hervorzurufen. Allein die Bezeichnung «Indianer» ignoriert die aktuellste Forderung Betroffener, den Ausdruck Native Americans zu gebrauchen. Diese Benennung würde in den USA zu Recht zu einem öffentlichen Aufschrei führen.
Eines wird klar: Das BHM repräsentiert in seinen Dauerausstellungen das fehlende Bewusstsein einer kolonialen Vergangenheit in der Schweiz. Natürlich steht es dem BHM frei, ob es in dieser gesellschaftlichen sowie historischen Frage eine Gegenposition einnimmt und Aufklärungsarbeit leistet, oder ob es bestehende koloniale Vorstellungen reproduziert.
Es gibt durchaus positive Beispiele, an denen sich die Kuratorinnen und Kuratoren orientieren können. Das «Africa Museum» in Brüssel versucht seine koloniale Vergangenheit zu verarbeiten, indem es zeitgenössische kongolesische Kunst ausstellt. Kongolesische Künstlerinnen und Künstler werden eingeladen und gestalten mit ihren Werken die Ausstellung mit. Hausinterne Ausstellungsobjekte mit einem kolonialen Hintergrund werden dagegen mit Texten in den historischen Kontext gestellt.
Bei Ausstellungen über Identitäten und Lebenserfahrungen läuft ein Museum schnell Gefahr, Menschengruppen auszuschliessen, Erfahrungen dieser Gruppen zu verzerren, zu verschleiern, zu vereinfachen, oder nur wenige Repräsentantinnen und Repräsentanten sprechen zu lassen. Dieser Problematik kann mit dem Versuch entgegenwirkt werden, Menschen mit verschiedenen Hintergründen die Möglichkeit zur Mitgestaltung zu geben. Genauso, wie wir alle tagtäglich unsere Gesellschaft mitgestalten.