Der Rentner V. Z. wohnt schön. Sein Haus im Aepperied liegt hoch genug über dem Belper Steinbach-Quartier, dass er einen ungestörten Blick hat über die Ebene zum Flugplatz Belpmoos hinüber und ins Emmental hinein. Will er sich die Füsse vertreten, dann geht er gewöhnlich die paar Schritte ins Cholholz hinüber.
Die Leiche unterhalb der Holzbrücke
Am 29. Februar 2012, einem Mittwoch, macht er diesen Spaziergang nachmittags gegen halb fünf. Er quert die apere Rasenfläche, öffnet das massive Tor im Zaun und steigt die paar Treppenstufen zur kleinen, hölzernen Brücke hinunter, die hier über den fast in der Falllinie talwärts mäandernen Aarbach in den Wald hineinführt.
Mitten auf der Brücke bleibt der Rentner erschrocken stehen. Unterhalb, an der linken Böschung, liegt auf dem Rücken eine Gestalt. Die Polizei wird später von 15 respektive gar 20 Metern talwärts sprechen, fragt man jedoch V. Z., zeigt er auf eine Stelle, die von der Brücke kaum fünf Meter entfernt liegt. Gesehen hat er damals eine reglose, durchnässte, dunkelhäutige Gestalt. Der Oberkörper war mit einer schwarzen Stoffjacke gekleidet, eine lange Hose fehlte, und die Füsse, knapp über dem Wasser, das entlang von Eisrändern sprudelte, waren nackt. V. Z. erzählt: Geschockt, ohne zum Liegenden hinuntergestiegen zu sein, sei er ins Haus zurückgeeilt, habe zum Telefonhörer gegriffen und der Polizeiwache Belp Meldung erstattet.
Was mit der Person los sei – das protokollierte der Polizist am anderen Ende des Telefons – wisse er, V. Z., nicht, aber es sei möglich, dass sie tot sei. Um fünf Uhr stellt eine Ärztin der Sanitätspolizei Bern den Tod des jungen Mannes fest. Er trägt, so steht es in den Akten, den Schweizer Pass mit der Nummer F326411 auf sich, lautend auf den Namen Hassan Mohamed.
Von Mogadischu nach Bümpliz
Geboren wurde Mohamed am 31. Dezember 1988 in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Als er acht war, wurde die Familie auseinandergerissen: Seine Mutter ging mit der Schwester Faisa nach Südafrika, der Vater in die Vereinigten Staaten, Mohamed wurde zu einer Tante in die Schweiz gegeben. Hier wuchs er, «wie ein Bruder» von Nafisa A., der leiblichen Tochter dieser Tante, auf; zuerst in Saanen, später in Bern-Bümpliz. Wegen schwerer gesundheitlicher Probleme seiner Tante kam er nach der neunten Klasse in das Jugendheim «Schlossmatt», wo er ungefähr fünf Jahre blieb. In dieser Zeit macht er eine Ausbildung zum Mechapraktiker und die Rekrutenschule als Übermittlungssoldat in Dübendorf.
Weil er danach keine Festanstellung findet, arbeitet er immer wieder temporär. Seit August 2009 wohnt er an der Schlossstrasse in einer eigenen Wohnung. Auf 31. Januar 2012 kündigt ihm die Hausverwaltung den Mietvertrag «wegen Zahlungsrückständen». Beim Zentrum für Treuhand und Immobilien in Muri liest die Sachbearbeiterin aus ihren elektronischen Notizen vor, die Wohnungsübergabe habe schliesslich erst am 14. Februar stattgefunden, weil zuvor zu wenig sauber geputzt worden sei. Ob Hassan Mohamed die zusätzlich fällig gewordene halbe Monatsmiete bezahlt hat, weiss sie nicht.
Zurück in die Wohnung der Tante
Von nun an lebt Mohamed wieder bei seiner Tante, die an der Bethlehemstrasse im Stöckacker wohnt. Vom 7. bis zum 24. Februar 2012 besucht er in Kirchberg einen Weiterbildungskurs für die elektronische Steuerung von Werkzeugmaschinen (CNC). Seine RAV-Betreuerin erhält aus Kirchberg den Bescheid, es laufe gut. Gegenüber der Polizei beschreibt sie später den jungen Mann als sehr freundlich und darauf bedacht, alles richtig zu machen. Allenfalls habe er auf sie «manchmal hyperaktiv und ‚etwas durch den Wind‘ gewirkt».
Seit einigen Monaten, das wird später seine Cousine Nafisa A. einem Polizisten erzählen, trifft er sich «mit einer Gruppe von Leuten mit starkem islamischem Grundgedanken». Seither liest er im Koran. In seinem Zimmer liegen muslimische Broschüren, zum Gebet trägt er ein langes olivgrünes Gewand, er schafft sich einen Gebetsteppich an und drei Gebetsketten.
Der Streit um die Tabletten
Am Montag, den 27. Februar, nach 11 Uhr vormittags kommt es in der Wohnung von Mohameds Tante zu einer Auseinandersetzung. Anwesend ist auch Nafisa A., die sich erinnert: Ihre Mutter habe sich bereits zweimal einer schweren Leberoperation unterziehen müssen. Deshalb nehme sie seit vielen Jahren Medikamente: «An diesem Mittag hat Mohamed eine Tablette entzweigeschnitten und gesagt, das Pulver, das herauskomme, sei nichts als Plastik, so etwas zu schlucken sei ungesund, sie solle das Zeug wegwerfen. Meine Mutter war anderer Meinung. Er solle sie damit in Ruhe lassen, hat sie gesagt, sie wisse schon, warum sie diese Medikamente nehme. Einen Moment lang haben sie gestritten. Dann hat Mohamed gesagt, in dem Fall gehe er.»
Er ging in sein Zimmer, packte die blauschwarze Puma-Sporttasche und die graue Umhängetasche und verliess die Wohnung. Den beiden Frauen wars recht. In der kalten Februarluft würde er sich schnell beruhigen und dann wieder heimkommen.
Am gleichen Abend sitzt eine Kollegin von Nafisa A. in einem stadtauswärtsfahrenden Tram. Sie sieht Mohamed am Loryplatz ein- und an der Station Stöckacker wieder aussteigen. Die Kollegin registrierts als Normalität: Sie weiss, dass Mohamed von dieser Tramstation nicht mehr als zwei Minuten zu gehen hat bis in die Blockwohnung seiner Tante. Allerdings ist er dort nie mehr eingetroffen.