Der sture Erzähler

von Simon Schaffer 20. Februar 2020

Zehn Jahre lang arbeitet Saddam Hamed als Reporter im Jemen. Dann wird seine Stadt eingenommen und er flüchtet – nach Bern.

Saddam Hameds Facebook-Account sieht arabisch aus. Er ist sehr aktiv, postet häufig, fast jeden Tag etwas. Manchmal geht es um Fussball, um die grossen Teams der Champions League, manchmal aber auch darum, dass über 40’000 Menschen zum ersten Mal seit Jahren in einem Stadion in Jemen zusammengefunden haben, um gemeinsam Fussball zu sehen. Nach mehr als 5 Jahren des Krieges. Für einmal also ein volles Stadion. Es sei wichtig, für die Menschen dort. Auch für Saddam ist es wichtig. «Im Journalismus geht es immer nur um Politik und Krieg. Man braucht auch etwas, um Spass zu haben.»

Saddam Hamed oder Saddam Abu Asim, so sein publizistischer Name, ist ein freundlicher, nicht allzu grosser Mann mit wachen Augen, leichtem Bart und einem feinen Lächeln auf den Lippen. Er spricht leise, auch weil er die deutsche Sprache nicht so gut beherrscht, wie er gerne möchte. Während des Gesprächs in einem lauten Café in Bern muss er gelegentlich eine Übersetzungs-App benutzen. Manchmal ringt er um Worte. Es ist ihm anzumerken, wie sehr ihn das frustriert. Ihn, den stolzen Journalisten, der auf Arabisch doch schon unzählige Geschichten erzählt hat. Der wortgewandte Mann scheint – wie so viele geflüchtete Menschen – dümmer als er ist, weil ihm die Worte fehlen.

Der wortgewandte Mann scheint – wie so viele geflüchtete Menschen – dümmer als er ist, weil ihm die Worte fehlen.

«In der Schweiz hört man zu wenig vom Konflikt im Jemen», stört sich Saddam und hat wohl Recht damit. Wir hörten nur wenig, als 2009 Konflikte zwischen der jemenitischen Armee und den schiitischen Huthi-Rebellen ausbrachen. Bedeutend mehr hörten wir, als zwischen 2012 und 2015 ebenjene Huthis Teile des Landes und dessen Hauptstadt Sanaa einnahmen. Daraufhin intervenierte eine sunnitische Militärkoalition, angeführt von Saudi-Arabien. Der Konflikt dauert an. Wir lesen höchstens Zahlen: über 230.000 Tote nach fast fünf Jahren.

Schreiben als Leidenschaft

Saddam wird 1980 in einem Dorf nahe der Stadt Ibb im Herzen Jemens geboren. Als Kind muss er zu Fuss in die Schule gehen, der Weg dauert jeweils zwei Stunden. Später, als junger Mann, studiert er Medienwissenschaften in Sanaa, der grössten Stadt des Landes und womöglich der ältesten Stadt der Welt. Während des Studiums schreibt er für eine bekannte Zeitschrift. «Für meinen ersten Artikel erhielt ich fast eine Seite», sagt er und strahlt.

Auf das Studium folgen Aufträge für eine Wochenzeitung, danach vier Jahre beim Online-Magazin «MarebPress». Er ist umtriebig und schreibt hin und wieder als Korrespondent für Zeitungen in Oman, Kuwait und Katar. Einige Artikel werden mit Preisen ausgezeichnet. So etwa eine Reportage über die unterdrückte Minderheit der jemenitischen Juden. Die Texte erreichen etwas, geben ihm ein gutes Gefühl. Zum Beispiel als er über eine Tochter schreibt, die nicht in die Schule geht, weil sie ihren blinden Vater betreut und ständig begleitet. Nach Erscheinen des Artikels meldet sich ein reicher Geschäftsmann bei der Familie und bietet seine Unterstützung an. In dieser Zeit verlobt Saddam sich mit Altaf, die er schon länger kennt. Sie arbeitet in einer Agentur. Das ist 2014.

Die Flucht

Dann spitzt sich die Lage zu. Sanaa ist unter der Kontrolle der Huthi-Rebellen. Es wird gefährlich: «Ich konnte monatelang nicht arbeiten, Kollegen von mir waren im Gefängnis oder bereits tot. Da sagte ich mir, ich gehe nach Saudi-Arabien.»

Also flüchtet er. Jemand hilft ihm beim Grenzübertritt und er kommt bei Verwandten unter. Nun will er unabhängig berichten und gründet eine Online-Zeitung. «Weisst du, ich bin neutral», wiederholt er mehrmals. Das ist ihm wichtig. Der Saudische Geheimdienst sendete aber klare Signale an alle jemenitischen Journalisten im Land: Wer über uns oder die Regierung schreibt, ist hier nicht willkommen.

«Ich konnte monatelang nicht arbeiten, Kollegen von mir waren im Gefängnis oder bereits tot. Da sagte ich mir, ich gehe nach Saudi-Arabien.»

Saddams Verwandte fürchten sich vor Repressionen. Sie bitten ihn, nicht mehr über die saudische Regierung zu berichten. Er sei dann zu einem Freund ins Hotel gezogen. «Ich habe fast zwei Monate für eine saudische Zeitung geschrieben, ich brauchte das Geld». So wie ihm gehe es vielen, sagt er heute. «Es gibt dort viele gute Journalisten, aber entweder schreiben sie für ein unkritisches Medium oder sie haben das Land bereits verlassen», sagt Saddam heute. Es klingt bitter.

Saudi-Arabien fühlt sich immer enger an. Die Eltern fragen, ob er nicht zurückkommen wolle. Er könne zuhause ja auch einer anderen Arbeit nachgehen, «wie deine Brüder», hätten sie gesagt. «Nein, ich bin Journalist», lautet seine Antwort. Er bleibt stur.

«Das Asylzentrum war wie ein Gefängnis.»

2015 sollen im Uno-Hauptsitz in Genf Verhandlungen zwischen der jemenitischen Exil-Regierung und den Huthi-Rebellen stattfinden. Saddam darf als Teil der Mediendelegation in die Schweiz reisen. Die Gespräche scheitern jedoch nach fünf Tagen. In dieser Zeit reift in ihm der Gedanke, zu bleiben. Der Entscheid fällt. Er beantragt politisches Asyl.

«Ich dachte, die Schweiz sei überall so schön», meint Saddam. «Im Asylzentrum aber musst du dein Handy abgeben, sie sagen dir, wann du aufstehen oder wann du schlafen musst.» Problematisch sei vor allem der Handy-Entzug gewesen. «Meine Familie wusste nicht, was mit mir passiert war.» Saddam fühlt sich krank. «Wegen des kalten Wetters», wie er behauptet. Dazu kommen Schmerzen in der Schulter, die schon in Saudi-Arabien begonnen hatten. Der Schmerz zieht sich über den Ellbogen, über den Unterarm, bis in die Finger.

«Meine Familie wusste nicht, was mit mir passiert war.»

Nach zwei Jahren erhält er die Aufenthaltsbewilligung B, sucht Arbeit, besucht Deutschkurse und wird Beihörer an der Universität Bern. Die Schmerzen in der Schulter nehmen zu, also lässt er sich operieren. Danach sind sie stärker als vorher. Er geht zu einem anderen Arzt, der meint, der Chirurg habe womöglich einen Fehler bei der OP gemacht.

Wie weiter?

Dann ein Lichtblick anfangs 2019. Altaf, Saddams Verlobte, kommt in die Schweiz. Das Paar heiratet im März. Sie wird schwanger. Aber die Familie fehle ihr, sie langweile sich Zuhause, meint Saddam bedauernd. Altaf hat zwar Englisch studiert, spricht aber fast kein Detsch und kennt in Bern niemanden.  «Sie leidet und sagt ständig, sie wolle wieder zurück.» Die Situation ist schwierig. «Ich will, dass mein Baby hierbleibt. Es gibt gute Schulen und Spitäler. Es kann Sprachen lernen.» Jetzt sind Saddams Augen feucht. Er hoffe, dass Altaf bleiben werde und die Kleine auch. Ihrer Tochter haben die beiden den Namen Nisma gegeben. Nisma, das heisst Brise. Und sie hat die Stille in der gemeinsamen Wohnung beendet. Jetzt läuft immer etwas.

Am wichtigsten für ihre Situation wäre nun Arbeit. Doch Stellen im Journalismus gibt es nur wenige und dafür benötigt er ausgezeichnetes Deutsch. Und wie wäre es mit anderer Arbeit, zum Beispiel bei einer NGO? Saddam antwortet bestimmt: «Ich liebe meinen Beruf. Ich habe keine Kraft für einen anderen. Schreiben, Erzählen, Lesen, das ist was ich liebe. Das war schon immer so.»

Er will beharrlich Journalist bleiben. Seit 2017 schreibt er nicht mehr für arabische Medien. Aber warum? «Ich möchte mein Deutsch verbessern und hier ein neues Leben beginnen. Als Journalist musst du am Ort sein, über den du berichtest.» Er informiere sich schon, lese ständig, bleibt in Kontakt mit seinen Freunden und Kollegen, aber viele von denen leben auch bereits über die Kontinente verstreut.

«Schreiben, Erzählen, Lesen, das ist was ich liebe.»

Vieles ist unsicher. Saddam bewirbt sich auf Praktikas, er ist vernetzt in Organisationen für Geflüchtete. Er will hier arbeiten, doch die Situation im Jemen vergessen, kann er nicht. Das will er auch nicht. Zusammen mit befreundeten Journalisten aus dem Jemen will er bald eine Organisation gründen. Sie wollen gemeinsam den Krieg im Jemen ins Bewusstsein der Schweiz und Europas ziehen, Veranstaltungen organisieren und mit Politiker*innen reden. Über die Situation der Menschen, der Väter, der Mütter, der Kinder. Aber auch über die Situation der Medienschaffenden. Er hat viele Ideen; und viel zu viel Zeit. Er grübelt, ist am Handy, grübelt, liest.

Saddam ist auch weiterhin auf Facebook und Twitter aktiv. Das sind die Kanäle, die Tore zu den News von Zuhause, zu den Freunden, zur Mutter, die schwer krank wurde und noch immer nicht gesund ist. Und er sitzt hier und tippt in sein Smartphone. Nicht richtig angekommen in der Schweiz, nicht mehr dort wo er sich auskennt.