Der Strassburger Stein soll an das historische Urteil erinnern

von RaBe Info & Noah Pilloud 10. April 2025

Klimaurteil Vor einem Jahr gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Klimaseniorinnen recht: Die Schweiz tut zu wenig gegen die Klimakrise und verletzt somit die Menschenrechte der älteren Frauen. Die Klimaseniorinnen feierten das mit einem Fest auf dem Bundesplatz – und einem Steinblock aus Strassburg.

Mit einer ordentlichen Fanfare wurde der Stein aus Strassburg gestern auf dem Berner Bundesplatz enthüllt. Der Stein ist ein Geschenk aus der Stadt Strassburg, um das einjährige Jubiläum des EGMR-Entscheids zugunsten der Klimaseniorinnen zu feiern. Im Gegenzug erhält Strassburg einen Stein aus der Schweiz.

Genau vor einem Jahr, am 9. April 2024 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Klimaseniorinnen in ihrer Klage gegen die Schweiz Recht. Weil die Schweiz zu wenig gegen die Klimakrise und ihre Auswirkungen unternimmt, verletze sie die Menschenrechte der älteren Frauen, lautete das Urteil. Anlässlich des einjährigen Jubiläums begingen die Klimaseniorinnen gestern einen festlichen Anlass auf dem Bundesplatz.

Die Schweiz und die meisten Länder müssen sich mehr anstrengen, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens nicht völlig zu verfehlen.

Der quaderförmige Steinblock, der feierlich enthüllt wurde, ist leicht rosafarben und etwa 1,30 Meter hoch. Bei der Festaktion auf dem Bundesplatz diente er zugleich als Podest für die Redner*innen. Während im Hintergrund das Wasserspiel vor sich hin plätscherte, sprachen die eingeladenen Redner*innen vor den rund 150 Versammelten über das Urteil und die Schweizer Klimapolitik.

Die ETH-Professorin und Klimaforscherin Sonia Seneviratne etwa wies darauf hin, welch deutliche Sprache die wissenschaftlichen Zahlen sprechen: «Global und auch in der Schweiz sind wir nicht auf Kurs. Die Schweiz und die meisten Länder auf der Welt müssen sich mehr anstrengen, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens nicht völlig zu verfehlen.» Mit den derzeitigen Emissionen und den Verpflichtungen steuere die Schweiz eher auf eine Erhitzung von drei Grad zu, machte die Wissenschaftlerin deutlich.

Die Teilnehmer*innen der Veranstaltung wünschen sich eine andere Energiepolitik. (Foto: Janine Schneider)
Rosmarie Wydler-Wälti eröffnete den Anlass. (Foto: Janine Schneider)

Die Politik ignoriert das Urteil

Das grosse Thema des Anlasses war denn auch die ausbleibende Reaktion der Schweizer Politik auf das Urteil. «Klimaurteil umsetzen: jetzt!», stand auf einem Banner. Einige Teilnehmer*innen trugen ausserdem Plakate mit der Aufschrift: «Nöd ume-eiere – jetz a d Seck!»

Denn obwohl der EGMR die Schweiz in die Pflicht nimmt, mehr zu tun, hat die Politik im Jahr seit dem Urteil dahingehend nichts unternommen. Im Gegenteil: Beide Parlamentskammern haben dem Bundesrat empfohlen, das Urteil zu ignorieren. Der Bundesrat ist der Meinung, die Schweiz erfülle die klimapolitischen Anforderungen des Urteils bereits. «Es wird aber viel zu wenig umgesetzt», sagt hingegen Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen, im Gespräch nach der Veranstaltung. «Es ist tragisch, dass der Bundesrat glaubt, er habe schon ganz viel gemacht», doppelt die Klimaseniorin nach.

Die Schweiz hat die Konvention unterzeichnet, sie verpflichtet uns, Punkt!

Die Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan kritisierte in ihrer Rede den Umgang mit der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). «Die EMRK wird von Schweizer Politiker*innen immer dann hoch gehalten, wenn es ihnen gelegen kommt. Nimmt sie aber die Schweiz in die Pflicht, ignorieren sie die Konvention», sagte Arslan. Die Grünen-Nationalrätin, die ausserdem der Schweizer Delegation im Europarat angehört, hat kein Verständnis für diesen selektiven Umgang: «Die Schweiz hat die Konvention unterzeichnet, sie verpflichtet uns, Punkt!»

Der Widerstand der Politik zeigt: Das Urteil des EGMR war kein Schlusspunkt im Kampf der Klimaseniorinnen um mehr Klimagerechtigkeit. Er markiert vielmehr einen ersten Meilenstein auf dem Weg dorthin. Daran soll der Stein aus Strassburg erinnern. «Wo der Stein bleiben soll, ist noch nicht klar», erzählt Rosmarie Wydler-Wälti, sie würde sich aber freuen, wenn andere Städte ihn für eine bestimmte Zeit bei sich aufstellen wollen. «Wir hoffen, dass er am Schluss mit einer Tafel versehen fix in Bern stehen wird», so Wydler-Wälti weiter. Gut möglich also, dass der Strassburger Stein dereinst zum Berner Stadtbild gehören wird. Auf dem Bundesplatz haben ihm die Klimagrosseltern jedenfalls schon eine Strophe zur Melodie von Bella Ciao gewidmet. «Der Stei vo Stassburg, isch üses Zeiche, dass guete Wille Bärge versetzt», sang der gesamte Bundesplatz mit.

Die Radioreportage zum Anlass von RaBe-Info: