Der Schutz von Tänzer*innen

von Christoph Reichenau 30. September 2022

Belästigungen im Bern Ballett 2021. Eine externe Untersuchung. Verwarnung und Anweisungen und vermuteter Frieden. Nun lassen Zeitungsartikel angebliches neues Fehlverhalten vermuten. Ohne Beleg. Bühnen Bern packt den Stier bei den Hörnern. Der Ablauf eines hektischen Donnerstags.

Beim morgendlichen Lesen des «Bund» ein Artikel – von vier Journalist*innen verfasst –  über den Probenleiter des Bern Ballett, der Tänzerinnen unangemessen angefasst und verbal sexuell belästigt hat.
Um 8:18 Uhr das Mail der Kommunikationsstelle von Bühnen Bern, Einladung zu einer Medienkonferenz um 15 Uhr physisch oder via Internet. Die Intendanz will Stellung nehmen.

Um 11 Uhr liegt «Die Zeit» im Briefkasten. Im Teil Schweiz anderthalb grossformatige Seiten über den Fall mit Zitaten aus dem Untersuchungsbericht, die Grundlage des Beitrags im «Bund».

Bis am Abend des 28. Septembers 2022 schien alles in Ordnung.

15 Uhr Medienkonferenz. Etwa zehn Journalist*innen im Foyer des Stadttheaters, weitere elektronisch zugeschaltet. Intendant Florian Scholz verliest eine Erklärung, Rechtsanwältin Monika Hirzel der Beratungsfirma BeTrieb vertieft ihren Part. Isabelle Bischof, die Leiterin des Ballett-Ensembles, steht Rede und Antwort.

Kurzfassung des Geschehenen

Im April 2021 erhoben Tänzerinnen des Bern Ballett Anschuldigungen gegen verbale Anzüglichkeiten, Belästigungen und Berührungen des Probenleiters, der zuvor Tänzer im Ensemble war. Die Intendanz von Bühnen Bern stellte den Probenleiter frei und beauftragte die Zürcher Firma BeTrieb mit der Untersuchung des Sachverhalts und der rechtlichen Beurteilung des Verhaltens des Beschuldigten. Nach Befragung von 15 Personen konstatierte BeTrieb verbale, aber nicht körperliche Belästigungen und empfahl eine Verwarnung mit Androhung der Kündigung im Wiederholungsfall. Die involvierten Mitglieder des Ballett-Ensembles mussten eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschrieben, weil im Verfahren intime Informationen über einzelne Personen bekannt geworden waren, die zu deren Schutz nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten.

Intendant Scholz setzte die Empfehlung um. Er entschuldigte sich beim Ballett, eröffnete den Mitgliedern den Bericht, verwarnte den Probenleiter und drohte ihm die Nicht-Verlängerung seines Vertrags an. Im August 2021 nahm dieser seine Arbeit wieder auf.

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Bis am Abend des 28. Septembers 2022 schien alles in Ordnung. Dann erfuhr Scholz aus der «Zeit» und dem «Bund», dass es trotz befolgter Handlungsempfehlungen von Seiten des Probeleiters bereits nach wenigen Wochen wieder zu Unkorrektheiten gekommen sein soll. So unspezifisch steht es im «Bund», der «Die Zeit» zitiert. Worum es konkret gehen soll: Kein Hinweis.

Scholz erklärt sich betroffen von den nun medial erhobenen Vorwürfen. Er habe am Morgen mit dem gesamten Ensemble gesprochen und alle Tänzer*innen gebeten, allfällige Vorwürfe gegenüber dem Probenleiter bei einer dafür zuständigen Stelle umgehend zu melden. Am Vormittag habe sich niemand dafür ausgesprochen, den Probenleiter erneut zu sistieren, sondern sich im Gegenteil für die Fortführung des Arbeitsverhältnisses mit ihm ausgesprochen.

Einzelne Punkte und Eindrücke

Auf Frage erklärt Scholz, Bühnen Bern habe den Bericht von BeTrieb nicht veröffentlicht, um die Persönlichkeit einzelner Tänzer*innen vor bestimmten Äusserungen zu schützen. Deshalb habe man die Öffentlichkeit auch allgemein nicht über die Vorwürfe und das Vorgehen 2021 orientiert.

Zur Stimmung im Ensemble sagt Leiterin Isabelle Bischof, alle Tänzer*innen seien sehr betroffen und bestürzt über die nun beschriebenen Inhalte in der Presse. Sie fühlten sich wegen Unstimmigkeiten und auch den preisgegebenen privaten Dingen ungerecht behandelt. Die Situation sei sehr aufwühlend und dies habe sicherlich einen Einfluss auf die Konzentration in der Probenarbeit.

Seit April 2021 seien die Antennen ausgefahren und auf Empfang  feiner Signale eingestellt.

Rechtsanwältin Monika Hirzel von der untersuchenden Firma BeTrieb weist darauf hin, dass bei der Beurteilung der fraglichen Handlungen des Probenleiters der Kontext entscheidend sei. Tanz sei ein körperlicher Beruf, in dem es immer wieder notwendigerweise Berührungen gebe. Entscheidend seien Art und Absicht. Unangemessen und nicht hinzunehmen seien Annäherungen in sexueller Absicht, welche die betroffene Person ablehne.

Das Tanz-Ensemble sei während der Proben fast immer beisammen und das Büro der Tanzdirektorin liege unmittelbar daneben. Dennoch sei vor April 2021 nichts Anstössiges bemerkt worden. Seitdem seien die Antennen aber ausgefahren und auf Empfang auch feiner Signale eingestellt.

Eine weitere Frage, ob das Tanzensemble den Probenleiter entlassen könnte, wenn wieder etwas geschähe, wird aus rechtlichen Gründen verneint; eine solche Stimmung würde aber wohl ernst genommen.

Direkte Zitate im Artikel der «Zeit» entsprächen nicht durchwegs der Wahrheit oder seien aus dem Zusammenhang gerissen, sagen Monika Hirzel und Florian Scholz.

Die Schweigevereinbarung, so Scholz, sei zum Schutz der Tänzer*innen, nicht um diese mundtot zu machen. Eine Person habe sie nicht unterzeichnet und sei in der Folge vom Informationsfluss abgekoppelt worden. Auch die seit August 2021 neu engagierten Tänzer*innen seien über das zuvor Vorgefallene bewusst nicht informieret worden. Scholz äussert auch jetzt entschieden, der Bericht gehöre nicht an die Öffentlichkeit.

Auf Frage eines Journalisten, der nicht im Besitz des Untersuchungsberichts ist, der einzelnen Redaktionen zugespielt wurde, antworten Monika Hirzel und Florian Scholz, auch direkte Zitate im Artikel der «Zeit» entsprächen nicht durchwegs der Wahrheit oder seien aus dem Zusammenhang gerissen.

Verhaltenskodex

Bühnen Bern verfügt, auf der Website prominent platziert, über einen Verhaltenskodex. Mit Bezug zum vorliegenden Fall steht dort:

«Die Arbeitsbeziehungen an den Bühnen Bern sind geprägt von Respekt und Menschlichkeit. (…) Alle Mitarbeitenden haben daher unabhängig von ihrer Position die Pflicht, ihre Kolleginnen und Kollegen gerecht, höflich und mit Respekt zu behandeln. (…) Insbesondere tolerieren die Bühnen Bern am Arbeitsplatz weder verbale, elektronische, körperliche, sexuelle oder psychologische Diskriminierung oder Belästigung aufgrund von Herkunft, Nationalität, Geschlecht, Hautfarbe, Behinderung, Religion, Familienstand, politischer Überzeugung, sexueller Orientierung oder irgendeines anderen wahrnehmbaren Unterschieds.»

Weiter: «Die Bühnen Bern verlangen von ihren Mitarbeitenden, von ihrer Geschäftsleitung und vom Stiftungsrat einen verantwortungsvollen Umgang mit der Macht, die ihnen Kraft ihrer Position übertragen wird. Die Bühnen Bern dulden keine Formen des Machtmissbrauchs. Darunter fallen Verhaltensweisen, die darauf abzielen, Personen in Abhängigkeit und unter Kontrolle zu bringen. Die Angriffe können in Worten oder Taten stattfinden und nehmen bewusst in Kauf, dass Mitarbeitenden Schaden zugefügt wird.»

«Wer Opfer oder Zeuge eines unangemessenen Verhaltens wird, kann dies an den bzw. die jeweilige/n Linienvorgesetzte/n oder an die Personalabteilung melden. Alle Informationen werden vertraulich behandelt. Als Vertrauensperson kann auch die Stiftungsratspräsidentin, der Stiftungsratspräsident oder die Personalberatung für die Mitarbeitenden der Stadtverwaltung Bern kontaktiert werden. (…) Meldungen können vertraulich und anonym erfolgen. Sämtliche Informationen werden vertraulich behandelt. Es werden keinerlei Repressalien gegen eine Person geduldet, die guten Glaubens eine unrechtmässige Situation meldet oder sich weigert, an rechtswidrigen Handlungen teilzunehmen. Die Bühnen Bern werden jede Meldung und vermeintliche Nichteinhaltung dieses Verhaltenskodex, seiner unterstützenden Weisungen oder der Gesetze und Vorschriften, die für die Bühnen Bern gelten, untersuchen. Mitarbeitende müssen bei solchen Untersuchungen umfassend kooperieren.»

Mein Eindruck

Der Intendant von Bühnen Bern hat dreimal rasch gehandelt: Nach Bekanntwerden der Vorwürfe im April 2021 suspendierte er umgehend den Probenleiter und ordnete die Untersuchung an. Deren Empfehlung setzte er sofort vollumfänglich um. Und als nun in den Medien neue Verdachtsmomente angedeutet wurden dauerte es keine 24 Stunden bis zum Gespräch mit dem gesamten Ballett und der Abhaltung der Medienkonferenz.

Ich nehme es Florian Scholz ab, dass er ehrlich erschüttert ist und wirklich für die Leute an den Bühnen Bern Schutz und Sicherheit über alles stellt. Es ist nun an den Mitgliedern des Ensembles, sich an eine der zahlreichen Stellen zu wenden, wenn unter dem Rauch auch Feuer sein sollte. Es wird nötig sein, in ein paar Tagen nachzufragen, falls bis dann keine Meldungen eingehen. Denn natürlich kann es sein, dass allen betriebsinternen und -externen Meldestellen nicht getraut wird. Dies wäre schlimm und Zeichen einer veritablen Vertrauenskrise im hierarchischen Bühnenbetrieb.

Es ist nun an den Mitgliedern des Ensembles, sich an eine der zahlreichen Stellen zu wenden, wenn unter dem Rauch auch Feuer sein sollte.

Dann müsste man sich allerdings fragen, an wen sich betroffene Ballett-Mitglieder überhaupt wenden können mit Angst oder Verletzungen oder Schmerzen. An eine Supervisorin oder einen Supervisor? Doch was sollte sie oder er zusätzlich garantieren? An die Medien? Wer, wie der «Bund» heute, ohne weitere Spezifikation oder Zeugnisse schreibt, der verwarnte Probenleiter habe sich neuerdings unkorrekt verhalten, ist wohl weniger an einer Lösung interessiert als am Skandal. Wem hilft das? Wäre es nicht hilfreich, der Intendanz von Bühnen Bern Namen und Fakten mitzuteilen?

Ein Problem

Ein Problem bleibt. Bühnentanz ist eine Sehnsucht vieler junger Leute. Um auf die Bühne zu kommen, ordnen sie sich schon in der Ausbildung vielen Härten und Zwängen unter. Wenn sie in den Beruf eintreten, sind sie noch jung, extrem auf die Bühne fokussiert, in Konkurrenz mit anderen um Rollen, im Kampf mit sich selbst um die Leistungsfähigkeit und Qualität. Sie stehen in Mehrspartenhäusern einkommensmässig zuunterst, sind von Verletzungen bedroht. Und vor allem: Sie haben vielleicht 15 oder 20 Jahre auf Topniveau vor sich. Nachher kommt eine Umschulung. Dann treten sie aus einem Zustand, den viele kaum je als Beruf, sondern als Berufung verstanden haben, in eine neue Wirklichkeit: die von uns allen. Das macht Angst und lässt vorher vieles ertragen. Manchmal zu viel. Deshalb muss man Tänzer*innen schützen, vor den anderen und höheren in der Hierarchie. Und zuweilen auch vor sich selbst.