Der mystische Buchhändler und der solide Kaufmann

von Hektor Leibundgut 17. Oktober 2021

Vor Kurzem ist Ueli Riklin 70 Jahre alt geworden. 49 ½ Jahre ist es her seit der Gründung der Buchhandlung für Soziologie, die heute «Münstergass-Buchhandlung» heisst. Das damalige Start-up war von Beginn weg kultureller Treffpunkt und Ausgangsort kultureller Erneuerung. Spiritus rector war Ueli Riklin mit Irene Candinas. Eine Lobrede auf den Buchhändler. Das Jubiläumsbuch folgt im Frühjahr 2022.

Es gab eine Zeit, in der sich sogar ein König um den Buchhandel kümmerte. Am 21. Dezember 1807 stellte Adam Müller, der Freund Heinrichs von Kleist, namens einer Gesellschaft von Gelehrten an König Friedrich August von Sachsen ein Gesuch für eine fünfte Buchhandlung in Dresden. Sie sollte die Basis der geplanten Gelehrten-Zeitschrift Phöbus sein. Friedrich August bat am 8. Januar 2008 – so speditiv war er über die Festtage – den Dresdner Stadtrat um eine Stellungnahme, und dieser wiederum die Buchhändler der Stadt. Ende Januar lieferten sie ihr Gutachten ab.

Dass sie not amused waren ob der Aussicht auf einen neuen Konkurrenten – geschenkt. Aber ihre Bedenken gehen weiter. Sie bezweifeln nämlich grundsätzlich, ob ein Gelehrter überhaupt eine Buchhandlung zu führen vermag. Es könne zwar gewiss nicht schaden, halten die Gutachter ironisch fest, dass ein Buchhändler gelehrt sei. Aber: Der gelehrteste Mann «hat als solcher die praktischen Kenntnisse des viel umfassenden Kaufmannes nicht, als der Buchhändler ist». Denn für den Gelehrten hätten seine Gegenstände «einen höhern Wert (…), als vom Kaufmannsgeiste, ohne welchen keine Handlung solid sein kann, beseelt sein». Doch ohne diesen Kaufmannsgeist mache der «mystische Buchhändler», wie die Gutachter ihn titulieren, bald einmal Pleite. Mit Datum vom 22. Februar lehnte darauf der König Adams Gesuch ab – und tat gut daran. Der Phöbus wurde nach einem Jahr eingestellt und hinterliess nur Schulden.

Für die Dresdener Buchhändler – alles Kollegen von Ueli Riklin – war selbstverständlich, dass ein Buchhändler gelehrt ist. Was ein gelehrter Buchhändler ist, wissen wir, weil wir Ueli kennen. Mit Marxismus, Neomarxismus, kritischer Theorie, Strukturalismus und Poststrukturalismus, Konstruktion und Dekonstruktion, Risiko-, Erlebnis-, Multioptionsgesellschaft usw. kannte er sich aus, auch weil er ein Ohr hatte für seine gesprächigen Kunden. Selbstverständlich pflegte er Vorlieben – Theweleit, Lischka, Sloterdjik –, aber wichtiger: Er besass einen Sinn für literarische Qualität. Was ein Buch taugte, sah er nach einem Blick auf eine Seite.

Warum aber wurde aus Ueli nicht ein «mystischer Buchhändler», wenn ihm die Bücher so viel mehr bedeuteten als bloss vom kühlen Kaufmannsgeist beseelte Objekte zu sein? Deswegen, weil Ueli sich nie darüber täuschte, dass Bücher eben genau dies auch sind, Verkaufsartikel. Und dass folglich eine Buchhandlung nicht nur Liebhaberei ist, sondern eine Handlung, deren Führung die umfassenden praktischen Kenntnisse des Kaufmanns erfordert. Darum hielt sie Bestand. Ueli liess sich von einem Gespür für den Geist der Zeit leiten, als er vor 50 Jahren die Buchhandlung für Soziologie gründete und so den Namen der damals angesagtesten Disziplin zum Markenzeichen machte. Und ebenso folgte er dem Zeitgeist, als die grosse Zeit der Soziologie vorüber war, indem er den Namen durch den der Münstergasse ersetzte und damit die programmatischen Fesseln ablegte.

Wir, die wir an den literarischen und wissenschaftlichen Bewegungen und Moden mit Ueli teilgenommen haben, können ihm jetzt für seine Leidenschaft, seine fachliche Kompetenz und seine Freundschaft nur danken.

*

Zitate aus: Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Herausgegeben von Helmut Semdner. Sammlung Dieterich, Bd. 172, Carl Schünemann Verlag Bremen, 1957, S. 138.

Auf den 16. März 2022 hin erscheint eine von Tobias Kästli verfasste kleine Geschichte zum fünfzigjährigen Bestehen der Münstergassbuchhandlung.

 

Journal B unterstützen

Alle Artikel auf journal-b.ch sind frei verfügbar. Um diese Arbeit finanzieren zu können, ist Journal B auf Ihre Unterstützung angewiesen. Werden Sie Mitglied im Trägerverein oder unterstützen Sie uns mit einer Spende.