Es hat auch schon andere wilde Zeiten gegeben. Zum Beispiel das kaiserlose Interregnum von 1250 bis 1273.
In dieser Zeit spielt Jeremias Gotthelfs historischer Kurzroman «Kurt von Koppigen» (erste Fassung 1844, zweite erweiterte Fassung 1850). Der junge Junker Kurt reitet als adeliger Strauchdieb in die Welt hinaus und macht die Gegend zwischen dem Oberaargau und dem Züribiet unsicher. Zwar heiratet er zwischenhinein Agnes und kehrt für kurze Zeit aufs Schlösschen Koppigen zurück. Aber bald zieht es ihn wieder zur Raubritterei – bis er an Heiligabend nach einem misslungenen Überfall am Bachtelenbrunnen in der Nähe von Koppigen der Wilden Jagd begegnet. Dieser Albtraum wirkt so stark, dass Kurt zu seiner Familie zurückkehrt und sich zum rechtschaffenen Familienvater läutert.
Eine besondere Neuausgabe
Sucht man im Katalog der Nationalbibliothek nach Ausgaben dieses Kurzromans, findet man mehr als zwanzig verschiedene. Gibt man heute den «Kurt von Koppigen» neu heraus, muss das Buch deshalb einiges bieten. Und tatsächlich:
• Der Band ist reich illustriert: Gezeigt werden zum Beispiel mehr als zwei Dutzend Bleistiftskizzen von Rudolf Münger zum «Kurt von Koppigen», die er wahrscheinlich zur Illustration der 1904 von Otto von Greyerz besorgten Ausgabe hergestellt hat.
• Gotthelfs Romantext (geboten wird die Fassung von 1850) ist von vielen weiteren Textelementen begleitet: Neben begriffs- und faktenklärenden Stellenkommentaren auf jeder Seite finden sich eingeschoben auch längere Zitate aus literarischen und Sachbüchern, die für Gotthelf wichtig gewesen sind.
• Das Nachwort schliesslich bietet eine mehrteilige Abhandlung über die Stellung des Romans «zwischen Literatur und Historie». Gotthelf, der sich als interessierter Laie zeitlebens mit geschichtlichen Fragen beschäftigt hat, schreibt sozusagen doppelt kodiert: Das zwar belegte, aber historisch wenig bedeutsame und früh ausgestorbene Geschlecht derer von Koppigen gibt dem Autor einerseits die Freiheit zur fiktiven Ausgestaltung des 13. Jahrhunderts, andererseits die Möglichkeit, zeitlich verfremdet seine Gegenwart zu spiegeln. Plausibel wird so die These belegt, dass Gotthelf auch die 1840er Jahre als eine Art Interregnum sieht, das mit dem Aargauer Klosterstreit, der Jesuitenfrage, den Freischarenzügen und dem Sonderbundskrieg der Bundesstaatsgründung von 1848 vorausgeht.
Vergnüglich zu lesen sind in diesem Zusammenhang die Belege, wie Bitzius einen Kampfbegriff seiner Zeit, «radical», zur Charakterisierung von Figuren des 13. Jahrhunderts einsetzt. Und spannend ist die literarische Spurensuche: Offenbar bedient sich Gotthelf der damals populären Genres des Ritterromans und der Schauerromantik – starke Bezüge gibt es insbesondere zum Schauerroman «The monk» (1796) von Gregory Matthew Lewis. Herausgearbeitet wird daneben, wie stark sich Gotthelf bei der Schilderung von Familien- und Erziehungsproblemen als Pestalozzi-Anhänger und Rousseau-Skeptiker erweist.
Die Nachteile des Experiments
Beginnt man den Roman zu lesen, stellen sich allerdings schnell Fragen: Dient man einem auf Unterhaltung und Spannung angelegten literarischen Text, wenn man mit Bildern und Textkommentaren aller Art seine Linearität relativiert? Bricht ein Buch, das derart zum Hin- und Herblättern einlädt, nicht die vom Autor intendierten Spannungsbögen? Auf jeder Seite fällt der Blick auf Stellenkommentare, die interessant und derart mit Verweisen und Quellenangaben durchsetzt sind, dass man laufend vom Hundertsten des Gotthelfromans ins Tausendste der editorischen Verweise kommt. Die Ausgabe ist ein spannendes Experiment, aber den Roman in dieser Präsentation einer quasi historisch-kritischen Leseausgabe zu lesen, braucht Selbstdisziplin.
Spätestens hier fragt man sich: Wer gibt denn ein Gotthelf-Buch in dieser Art heraus?
Es sind Marianne Derron und Norbert D. Wernicke. Und wenn man es nicht schon vorher gewusst hat, begreift man es beim Blättern schnell: Mit ihrer fulminanten Kenntnis der Primär- und Sekundärliteratur Gotthelfs gehören die beiden zweifellos weitherum zu den besten Gotthelfexperten überhaupt. Und wie akribisch sie forschen, zeigen zum Beispiel die erwähnten Münger-Skizzen: Die beiden haben herausgefunden, dass der Kunstmaler als Vorlagen für seine Studien ein Standardwerk zur mittelalterlichen Kunst und Architektur verwendete, dass Eugène Viollet-le-Duc 1868 in Paris herausgegeben hatte.
Der lange Schatten der HKG
Kein Wunder: Derron und Wernicke waren bis 2014 Mitglieder des Projektteams A der Historisch-Kritischen Gotthelfausgabe (HKG) der Universität Bern. Entlassen worden sind sie nicht aus fachlichen Gründen. Sie gehörten zur unterlegenen Seite eines Machtkampfs, der nicht der ihre war und wurden, weil sie eine eigene Meinung hatten und sie auch äusserten, trotz unbestrittener Kompetenz mit fadenscheinigen Argumenten verabschiedet.
Kein Wunder deshalb auch, wenn nicht nur Gotthelfs Roman, sondern auch seine Präsentation doppelt kodiert ist: Die Leseausgabe sucht das Publikum, die editorische Arbeit spricht zum Elfenbeinturm, in dem das HKG-Projektteam schalldicht abgeschottet vor sich hinwerkelt.
Wenn dieses Projektteam dereinst den «Kurt von Koppigen» in Angriff nimmt, wird es nicht darum herum kommen, die Arbeit von Derron und Wernicke zur Kenntnis zu nehmen. Und während Derron und Wernicke in ihrem Nachwort im Herbst 2016 einige scharfsinnige Beobachtungen zu Gotthelf publizieren, der in den 1840er Jahren als ehedem liberaler Reformer zunehmend als Reaktionär geschmäht wird, erscheint in der HKG gleichzeitig von Patricia Zihlmann-Märki und Christian von Zimmermann der 567-seitige Kommentarband zu «Jacobs, des Handwerkgesellen, Wanderungen durch die Schweiz» (zum Prohibitivpreis von 248 Euro). Thema dieses Gotthelf-Romans: Gotthelfs Kritik an Radikalliberalismus und Frühsozialismus in der Schweiz der 1840er Jahre.
Eigentlich ist die Know-How-Vernichtung im HKG-Projekt ein sehr diskutabler Luxus, solange dort öffentliche Gelder mit im Spiel sind.