«Der Kanton Bern produziert kaputte Kinder»

von Willi Egloff 18. November 2020

Der Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission, Professor Walter Leimgruber, schlägt Alarm: In einem Interview mit der Zeitung «Der Bund» wirft er dem Kanton Bern vor, er benütze in seinen Rückkehrzentren eingesperrte Kinder als Abschreckungsinstrument und verursache soziale Langzeitschäden. Die angesprochene Behörde reagiert pikiert.

Walter Leimgruber nimmt kein Blatt vor den Mund: Es gehe einfach nicht, wie der Kanton Bern mit den Kindern von abgewiesenen Asylbewerbern umgehe. Rückkehrzentren seien keine kindgerechte Umgebung, die Kinder würden dort krank. Indem der Kanton Bern Kinder und ihre Eltern in solche Zentren einsperre, betreibe er Sippenhaft, denn die Kinder könnten ja nichts für das Verhalten ihrer Eltern. Die Folge sei aber, dass diese Kinder keine normalen sozialen Beziehungen aufbauen könnten und motorische und psychosoziale Defizite entwickelten. «Wir produzieren gerade eine grosse Zahl kaputter Kinder», stellt Leimgruber im »Bund» vom 13. November nüchtern fest.

«Bewusst einseitig», meint zu diesen Vorwürfen das für diese Rückkehrzentren zuständige Amt, das sich in schon fast zynischer Weise «Amt für Bevölkerungsdienste» nennt. Die Unterbringung in den Rückkehrzentren sei durchaus kindgerecht, und die Kinder, die nicht in den öffentlichen Schulen eingeschult seien, würden in einer speziellen «Rückkehrklasse» unterrichtet. Im Übrigen sei das Amt an die gesetzlichen Vorgaben des Bundes gebunden. Auf Kantonsebene bestehe kein Spielraum für Lockerungen.

Realitätsfernes Gesetz

In der Tat trifft es zu, dass der Kanton Vorschriften des Bundes ausführt. Allerdings kennen viele andere Kantone sehr viel menschenwürdigere Formen der Unterbringung abgewiesener Asylbewerberinnen und Asylbewerber. Es ist keineswegs so, dass der Bund von den Kantonen das rigorose, schikanöse und erniedrigende Regime verlangt, wie es im Kanton Bern zur Zeit praktiziert wird.

 


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Es trifft auch zu, dass es auf Bundesebene gesetzliche Vorgaben gibt, welche diese Praxis legitimieren können. Mit immer neuen Revisionsschritten wurden das Asylgesetz und die auf ihm beruhenden Verordnungen so ausgestaltet, dass die Einreichung von Asylgesuchen möglichst verhindert und die Erfolgsaussichten auf ein Minimum reduziert  werden sollten. Gebracht hat es wenig: Die Menschen, die aus Afrika und Asien fliehen, wollen sich einfach nicht so verhalten, wie sich der schweizerische Gesetzgeber das vorstellt.

Genau diese realitätsferne Gesetzgebung ist aber die Wurzel des Übels. Nach den geltenden Gesetzen entscheidet eine Behörde, wer in der Schweiz Asyl erhält und wer nicht. Die gleiche Behörde entscheidet bei den Abgewiesenen, ob sie in der Schweiz bleiben dürfen und «vorläufig aufgenommen» werden oder ob sie das Land wieder verlassen müssen. Kriterium dafür müsste sein, ob die Ausreise möglich, zulässig und zumutbar ist. Weil aber diese Triage nicht anhand von Fakten, sondern aufgrund einer politischen Agenda erfolgt, wird die Ausreise immer wieder als möglich beurteilt, obwohl sie es nach objektiven Kriterien nicht ist. Das führt dazu, dass es in der Schweiz Tausende von Menschen gibt, die es nach den Vorstellungen des Gesetzgebers gar nicht geben dürfte: Sie haben kein Asyl erhalten und sind auch nicht vorläufig aufgenommen, sie halten sich aber trotzdem auf Dauer oder auch für den Rest ihres Lebens in der Schweiz auf, weil ihnen eine Ausreise nicht möglich oder nicht zumutbar ist.

Das bekannteste Beispiel für diese im Gesetz nicht existierende Gruppe sind die abgewiesenen Asylbewerberinnen und Asylbewerber aus Tibet. Sie erhalten in der Regel kein Asyl, weil sie keine individuelle, gegen sie persönlich gerichtete Verfolgungssituation geltend machen können. Sie werden aber auch nicht vorläufig aufgenommen, weil die schweizerischen Behörden ihnen unterstellen, sie kämen gar nicht aus China, sondern seien aus einem Nachbarstaat, zum Beispiel Indien oder Nepal, in die Schweiz eingereist und könnten auch dorthin zurückkehren. Beweise dafür hat das zuständige Bundesamt keine, aber es behauptet das einfach. Ausgeschafft werden diese Leute nicht, weil eine Ausschaffung nach China nicht zulässig ist, aber kein anderes Land sie aufnimmt. Und so landen sie einfach in der grossen Gruppe der nicht vorläufig aufgenommenen abgewiesenen Asylsuchenden, für die es keine adäquate gesetzliche Regelung gibt.

Staatsräson gegen Menschenwürde

Mit seiner Intervention fordert der Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass auch diese gesetzlich nicht vorgesehene Gruppe von Personen menschenwürdig behandelt wird. Das verlangt schon Art. 7 der Schweizerischen Bundesverfassung, wo es unzweideutig heisst: «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen». Das gleiche fordern auch die Kinderrechts-Konvention der UNO, die beiden UNO-Menschenrechtspakte oder die Europäische Menschenrechtskonvention, lauter Staatsverträge, welche die Schweiz unterzeichnet und ratifiziert hat.

Die bernischen Behörden berufen sich dagegen auf eine Art Staatsräson. «Diese Menschen sollen sich eben gerade nicht bei uns integrieren. Abgewiesene Asylsuchende werden in ihren Ländern nicht verfolgt und müssen zurück», lässt sich der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller zitieren. Dieses politische Ziel steht für ihn offenbar auch über dem Schutz der Menschenwürde. Eine solche Argumentation, wonach der Staatszweck über den existentiellen Rechten der Einzelnen stehe, ist keineswegs neu. Sie wurde zuerst in der Renaissance durch Niccoló Macchiavelli entwickelt und zieht sich in vielen Facetten durch 500 Jahre neuere Geschichte bis zum nationalsozialistischen Staatsverständnis. Sie steht in direktem Gegensatz zu einem liberalen Verständnis, in welchem den Individuen Grundrechte zustehen, in deren Kern der Staat unter keinen Umständen eingreifen darf.

Was für Macchiavelli der allwissende und für den Staat sorgende Fürst war, ist für Philippe Müller «das Volk». Er wende ja nur die geltenden Gesetze an, und diese seien vom «Volk» gewollt, meint der Sicherheitsdirektor. Dass dieses «Volk» ausschliesslich aus den stimmberechtigten Schweizerinnen und Schweizern besteht, die von den Asyl- und Ausländergesetzen von vorneherein in keiner Weise betroffen sein können, stört ihn dabei nicht. Die Staatsräson, die durch dieses «Volk» repräsentiert wird, steht für ihn eben über dem Schutz der Menschenwürde. Obwohl diese doch eigentlich in der höher gewichteten Norm, eben in Art. 7 der Bundesverfassung, verankert ist, die ebenfalls vom «Volk» angenommen wurde.

Nicht wegschauen!

«Wir betreiben zu Recht eine aufwendige Aufarbeitung zum Umgang mit den Verdingkindern oder den administrativ Verwahrten. Aber hier schauen alle weg. Ich bin überzeugt, dass sich künftige Generationen fragen werden, wie wir so etwas haben zulassen können», meint Walter Leimgruber zur aktuellen Situation. Wäre es da nicht sinnvoller, heute zum Rechten zu sehen und diese Aufarbeitung nicht den künftigen Generationen zu überlassen?

Denn was in diesen Rückkehrzentren heute abläuft, ist nicht nur unmenschlich, sondern auch wirtschaftlich höchst unvernünftig. Die vergangenen Jahrzehnte mit nur mässig erfolgreicher Abschreckungspolitik zeigen, dass ein durchaus erheblicher Anteil der abgewiesenen Asylsuchenden in der Schweiz bleibt, weil es für sie trotz schlechter Lebensbedingungen keine bessere Alternative gab und gibt. Das wird mit grösster Wahrscheinlichkeit auch für einen erheblichen Teil der Kinder, die heute in diesen Zentren aufwachsen, so sein. Sie werden auf Dauer in der Schweiz bleiben, weil sie keine realistische Alternative haben.

Einige sind wahrscheinlich stark genug, um die verpfuschte Kindheit überwinden und sich in die Gesellschaft integrieren zu können. Andere werden aufgrund der erlittenen psychischen und sozialen Schädigungen am Rande der Gesellschaft leben. Auch von denen, die sich integrieren können, werden viele in der nächsten Krise zu den ersten gehören, welche arbeitslos werden und keine neue Stelle finden, weil sie aufgrund der schulischen Defizite, die sie aus ihrer Zeit im Rückkehrzentrum mitbringen, im Arbeitsmarkt schwerer vermittelbar sind.

Eigentlich wissen wir das ja alle. Und doch meinen rechte Politiker noch immer, dass sie mit zur Schau gestellter Härte und mit Pochen auf eine angebliche Staatsräson punkten können. Dass diese Politik auf dem Rücken wehrloser Kinder ausgetragen wird, ist aber definitiv unerträglich. Oder, wie der Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission lapidar feststellt: «Das muss aufhören.»