Da sind sie wieder: Krissy Kraut und Bastiano Boscardin. 2014 haben sie in «Risotto für Krissy Kraut» eine spezielle Mordserie gelöst: Es ging um drei Leichen, die die Opfer aus Kriminalromanen von C. A. Loosli, Friedrich Dürrenmatt und Friedrich Glauser zu sein schienen. Diesmal heisst das Buch «Der Himmel als Abgrund über euch» und das Ermittlerduo wird aktiv, weil man in der Kadaversammelstelle des Tierspitals ein «aufgeplatztes Stück Fleisch» gefunden hat, das vormals ein Mensch gewesen ist. Kurz darauf ist klar, dass das Opfer in der Vakuumkammer des Center for Space and Habitability der Universität zum Platzen gebracht worden sein muss.
Ein schwieriger Fall: Die Vakuumkammer steht im Reinraum eines Forschungsprojekts für Weltraumtechnologie. Die Überwachungs-Webcam hat nichts aufgezeichnet. Das Schliesssystem hat weder einen Ein- noch einen Austritt registriert. Nach dem Platzen des Ermordeten ist die Vakuumkammer mit Javelwasser gereinigt worden. Der Tote heisst Hannes B. Etter, ein begabter, zurückgezogen lebender Postdoc, der am Center gearbeitet hat.
Wenn das kein Krimianfang ist!
Drohbriefe und Sterntaler
Einzige Spur ist vorerst eine Serie von Drohbriefen, die im Umfeld der Universität die Durchsetzung von Tierschutz und Veganismus fordert – Etter scheint als Insektenesser ins Visier geraten zu sein. Die Spur führt – freilich nicht für Kraut und Boscardin, sondern nur für den Erzähler – zu Kira Wilhelmina Reinmuth, die sich nicht als fanatische Mörderin, sondern als Studentin entpuppt, die in ihrer Bachelorarbeit zeigen will, wie Angst durch «persuasiven Sprachgebrauch» hergestellt und wie dieser medial und politisch zur Hasserzeugung eingesetzt werden kann. Die Studentin lernt, auch dank ihrer Drohbriefexperimente: «Die Welt ist nicht das, was der Fall ist. Die Welt ist das, was über sie erzählt wird.»
Die nächste Spur führt zum Slampoeten Kotzbrock 3.0. Immerhin hat er letzthin auf der Bühne eine Version von Andersens Sterntaler-Märchen zum Besten gegeben und in einem der Drohbriefe heisst es: «Die Zinsen eurer kreaturfeindlichen Ausbeutung werden als blutige Sterntaler vom Nachthimmel fallen…» Auch diese Spur führt ins Leere.
Nur der Untergrund überlebt
Die Aufklärung des Falls stockt und der Text wird unübersichtlicher. Auch weil es sein Autor mit Kotzbrock 3.0 hält, der in seinem Polizeiverhör erklärt, was er von «Illusionsprosa» hält: «Ein paar hübsch gemachte Holzpuppen lässt man durch hingekleckste Lügen purzeln.» Dabei müsste eigentlich ein «Neorealismus des Neoiliberalismus» erfunden werden, woran er arbeite.
Gesteuert von zwei Rabenkrähen, die ab und zu diskret auf einem Ast am Rande des Texts sitzen, entwickeln sich die 36 kurzen Kapitel der Geschichte immer mehr zu einem Labyrinth von Abschweifungen. Statt näher an die Lösung des Kriminalfalls gerät man in den Sog der Undenkbarkeit des Universums mit seinen 50 Milliarden Galaxien; in die unendlich vielfältig grünen Bilder, die die Ermittlerin Kraut am Feierabend zuhause mit Farbstiften ausmalt, in eine Debatte im «Löscher» über die Geruchsgeheimnisse des Eisprungs oder in die ausgeraubte Klosterbibliothek Odilienberg.
Ein Motiv allerdings taucht verschiedentlich auf: die Tatsache, dass Bern – von der Altstadt bis weit unter die Universität – weitestverzweigt unterhöhlt ist. Dieses Motiv verknüpft sich immer mehr mit dem anderen, das der Journalist Mario Malavenda als seine aktuelle Recherchearbeit schildert: Dass er einer Firma auf der Spur sei, die Privatschulen für Kinder aus noblem Milieu betreiben, in denen nicht nur «zweisprachige Förderung ab dem Säuglingsalter», sondern auch der «Umgang mit klein- und grosskalibrigen Waffen» angeboten werde. Dieses Angebot sei Teil eines regelrechten «Weltuntergangspackages» mit Privatbunkern und allen Schikanen, für das es einen wachsenden Markt gebe: Längst bereiteten sich die wirklich Reichen dieser Welt auf die Apokalypse vor, die sie «als Reinigung, nicht im religiösen Sinn, sondern als Reduktion der Überflüssigen» auf der Welt für notwendig erachteten, und die sie zu überleben gedächten.
Was ist ein «Rätselroman»?
Hat Etter in den Kellern des Center for Space and Habitability, wo Eingänge in die Bunkersysteme der ehemaligen Geheimarmee P-26 liegen könnten, am Ende etwas entdeckt, das er nicht überleben durfte? Kraut und Boscardin nehmen diese Fährte im Berner Untergrund auf.
Danach ist das Buch schnell zu Ende und der Autor muss feststellen: «Natürlich wäre es uns lieber, wir könnten sagen, der und der wars, aus diesen und jenen Motiven. […] Wenn es so einfach und tröstlich wäre. Aber nein, einen einfachen Trost haben wir nicht anzubieten.» So ist das eben in einer Welt, in der «sie unter uns sind», und zwar «wortwörtlich […] unter dem Boden, überall». Kurzum: Es empfiehlt sich in Zukunft, die Augen offen zu halten, wenn man durch Bern geht.
Elio Pellin hat ein faszinierendes Buch geschrieben, das durch Tempo, Abwechslungsreichtum und Sprachwitz unterhält. Es zweigt in alle Richtungen ab, ohne je auszuufern. Es ist schmal, und doch kommt man beim Lesen, falls man mitdenken mag, an kein Ende. Der Autor nennt’s einen «Rätselroman». Man könnte auch sagen: «Der Himmel als Abgrund über euch» ist ein Text, der Krimimotive als Vorwand nimmt, um abschweifend ein Feld von labyrinthischer Vieldeutigkeit zu entwerfen, das mit der Welt, in der ich lebe, tatsächlich mehr zu tun hat als die landesübliche «Illusionsprosa».