«Der Fuss ist weit weg vom Herzen»

von Basrie Sakiri-Murati 26. Juni 2023

Bern besitzt gemäss neusten Zahlen das engmaschigste Ärztenetz der Schweiz. Die Gesundheitsversorgung ist top. Unsere Kolumnistin kennt auch das Gegenteil.

Seit 1994 arbeite ich in Schweizer Spitälern. Als ich das erste Mal das Unispital in Bern betrat, war mein erster Gedanke: «Da wird man ja vor lauter Sauberkeit gesund!» Welch ein Unterschied zu den Spitälern in meiner Heimat Kosovo.

1989 hatte sich mein Bruder mit einer Motorsäge in den Fuss geschnitten. Er verblutete fast. Aber als mein älterer Bruder ihn ins 30 Kilometer entfernte Unispital von Pristina in den Notfall brachte, mussten sie rund drei Stunden in einem kalten Korridor auf dem Boden sitzend warten. Ärzte und Pflegende gingen vorbei, aber niemand half meinem Bruder. Sie schauten weg oder hatten eine Ausrede. Einer sagte gar: «Shputa e këmbës është larg zemre, nuk ka rrezik jete!» «Der Fuss ist weit weg vom Herzen, da besteht keine Lebensgefahr!»

Die Infrastruktur der städtischen Spitäler ist veraltet, qualitativ schlecht, kurz: völlig unzureichend.

Traurigerweise haben die Zustände nicht wesentlich gebessert. Patient*innen sterben, weil sie nicht richtig betreut werden.

Die städtischen Spitäler im Kosovo bekommen nicht die nötige Ausrüstung. Bei einem Spitaleintritt müssen die Angehörigen fast alles mitbringen, einschliesslich Medikamente und Betreuungspersonal. Das Spitalpersonal ist nur für die Verabreichung der Medikamente zuständig. Sie pflegen und waschen keine Patienten. Das machen die Angehörigen, unter anderem indem sie die Patienten nach Hause nehmen, lange bevor der Gesundheitszustand es zulässt.

Verschiedene internationale Organisationen und Regierungen, insbesondere aus arabischen Staaten, spendeten zwar für den Bau religiöser Gebäude, nicht jedoch für den Gesundheitsdienst und die Krankenhäuser.

In vielen Spitälern gibt es keine Badezimmer. Die Infrastruktur der städtischen Spitäler ist veraltet, qualitativ schlecht, kurz: völlig unzureichend. Viele Spitäler sind seit Jahren Bauruinen. Hauptsächlich wegen der überall herrschenden Korruption sind sie nie fertig gebaut worden. Das Gesundheitsbudget ist das niedrigste im Westbalkan und eines der niedrigsten der Welt. Die Gesundheit im Kosovo wird vom Staat ignoriert und vernachlässigt.

Anders ist es in den Privatspitälern. Die meisten sind gut ausgerüstet. Eine Behandlung in diesen Spitälern können sich aber nur die Reichen – Politiker*innen und Geschäftsleute – leisten. Einige Privatspitäler sind sogar im Besitz von Politiker*innen.

Warum dieser Missstand? Nach der Befreiung vom Serbien 1999 lag das Gesundheitswesen anfänglich in den Händen der UNO-Mission «UNMIK». Danach übernahm die lokale Regierung. Verschiedene internationale Organisationen und Regierungen, insbesondere aus arabischen Staaten, spendeten zwar für den Bau religiöser Gebäude, nicht jedoch für den Gesundheitsdienst und die Krankenhäuser.

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Ende 2022 sagte der Präsident der Ärztekammer des Kosovo, Pleurat Sejdiu: «Von 2018 bis heute haben 674 Ärzte das Gesundheitssystem verlassen.» Wegen Arbeitslosigkeit oder wegen besseren Arbeitsbedingungen anderswo wanderten sie ab, hauptsächlich in die EU-Staaten, vor allem nach Deutschland. Unter ihnen sind auch Ärzte aus meinem Verwandten- und Bekanntenkreis.

Der schlechte Zustand des Gesundheitswesens im Kosovo ist auch eine Belastung für die Diaspora. Kosovar*innen hier sind zwar gerne und immer wieder bereit, die Kosten für die Pflege und Betreuung ihrer Eltern und anderer Familienangehörigen im Kosovo zu übernehmen, aber die katastrophalen Verhältnisse lassen sie oft verzweifeln.