Der Drache und der Lanzelot in uns

von Christoph Reichenau 7. Juni 2022

Schauspiel mobil und Openair im Höflein zwischen Stadttheater und französischer Kirche. Gespielt wird «Der Drache», ein Klassiker über Terror, Angst, Opportunismus, Mut und Betrug. Was gerade heute ins Herz gehen sollte, geht in der Lautstärke unter.

Ein lauer Frühsommerabend. Im Raum zwischen der «Vierten Wand» und der französischen Kirche sitzen Menschen an Tischchen. Erwartungsvolle, aufgeräumte Stimmung. Eine Frau im Catsuit (Vanessa Bärtsch) springt aufgeregt hin und her, wickelt rot-weisses Absperrband kreuz und quer ab. Leutselig kontrolliert ein Schauspieler (Jonathan Loosli) die Karten, verteilt Heftchen mit Liedtexten.

Zuerst fast unbemerkt und leise spricht eine Frau (Yohanna Schwertfeger, die als Rose Bernd brillierte) vom Alleinsein («Alleinsein ist wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist»). Ein poetischer Monolog, noch kennt man seine Bedeutung nicht. Denn ihre Tochter Esra (Viet Anh Alexander Tran) ist als Opfer des Drachen ausersehen. Dieser kontrolliert den Ort seit langem, versetzt ihn jedoch nur selten noch in Angst, da sich die Menschen an ihn und seine unmenschlichen Forderungen gewöhnt haben.

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In die melancholische Stimmung stürmt Lanzelot (Linus Schütz), naiv, selbstbewusst, siegessicher im goldenen Kostüm mit Ukulele und hebt an, ein italienisches Liebeslied zu singen, das sich zu einem Duett mit der Katze erweitert, die auf Berndeutsch kommentierend antwortet.

Hier kippt die Aufführung. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sprechen nun lauter, schriller, agieren grober. Lärm übertönt feinere Nuancen. Aus ironischer Schrägheit wird Klamauk. Es wird schwer, das Gebotene ernst zu nehmen.

Dabei ist «Der Drache» des Russen Jewgeni Schwarz (1896-1958) aus dem Jahr 1943 gerade jetzt wichtig. Das Stück handelt von einem Ort, den ein Drache terrorisiert, indem er jedes Jahr einen Menschen als Opfer fordert und umbringt. Die Bevölkerung – eingewickelt in das rot-weisse Band – hat vor der Gewalt resigniert. Der opportunistische Stadtpräsident («Ich scheisse auf die Wahrheit») macht mit dem Drachen auf guten Freund und versteht das Zusammenleben mit dem Ungeheuer als «klar und voller Würde». Der plötzlich auftauchende Lanzelot, ungestüm und kampfbegierig, ist ein ungeliebter Störenfried. Doch er besiegt den Drachen und erliegt selber seinen im Kampf erlittenen Verletzungen mit den Worten: «Was habt Ihr das Scheusal gehätschelt; jetzt stirbt ein Mensch, mutterseelenallein». Der Stadtpräsident feiert sich als Befreier und will die vor den Drachen gerettete Esra mit seinem Sohn und Nachfolger verheiraten.

(Foto: © Yoshiko Kusano)

Das Stück über Terror und die Art, wie sich die Menschen damit arrangieren oder dagegen ankämpfen, trifft unseren Nerv in der Zeit des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Aus Scham über die eigene Unfähigkeit und feige Untätigkeit erklärt die Mehrheit die schlimme Gewalt zum Teil der eigenen Ordnung. Bis jemand kommt, der dies offen in Frage stellt und bereit ist, sein Leben zu riskieren. Dieser Eine ist Lanzelot. Er ist, obschon in der Minderheit, ein Teil von uns allen. So wie der Drache, das Böse, ein Teil von uns allen ist. Man kann Lanzelots Kampf mit dem Drachen auch als inneren Kampf des Guten mit dem Bösen in jedem Menschen verstehen. Dabei kommt es, wie Ludwig Hohl schrieb, auf jeden Einzelnen an: «Eine Hauptsache, die man nie vergessen dürfte: dass es an uns liegt, die Welt zu ändern, nicht bei den andern. Immer bei uns» (Vom Erreichbaren und vom Unerreichbaren).

Die Inszenierung (Regie Bruno Cathomas) übertönt mit der Laustärke der Spielenden die Differenziertheit der Analyse. Dabei gibt es feine Einflechtungen der Schauspielerinnen und Schauspieler, die das aktuelle Geschehen in Bern aufnehmen, etwa den Kommentar, in Bern passiere überhaupt nichts, ausser dass die Höllenengel ein bisschen etwas mit den Banditen hätten.

Nicht jedermanns Sache ist es, im Publikum Lieder mitzusingen; der Gesang machte uns irgendwie zum Teil der korrupten Gesellschaft auf der Bühne. Die Lieder, u.a. von Polo Hofer, die auch von Schmerz wissen, werden zudem auf das Lustige reduziert.

Am Premièreabend gab es viele und laute Lacher, Applaus, Wohlwollen. Was mir gegen den Strich ging, erheiterte Andere. Weshalb erreichte mich nicht, was offenbar den Meisten etwas bedeutete?

(Foto: © Yoshiko Kusano)

Im Gebrüll kann ich nicht denken. Es überfordert meine Fähigkeiten. Vor allem dann, wenn die Schauspielerinnen und Schauspieler teils hautnah mitten im Publikum agieren. Wenn alle im Publikum etwas tun sollen (La Ola mitmachen, Lieder mitsingen, mitklatschen) wehre ich mich reflexartig. Und nicht lustig finde ich, aus behaupteter Geselligkeit zum Teil einer Gesellschaft geformt zu werden, die sich selber aufgegeben hat und lauten Parolen folgt.

Noch eine Beobachtung: Die Schauspielerinnen und Schauspieler agierten mit stupender Körperbeherrschung und beeindruckender Präsenz. Vor allem in den grossen Monologen über das Alleinsein und über die hingebungsvolle, verschlingende Liebe der Katzenmutter gab es wundersame Momente. Leider überwogen die überlauten Töne die feinen, zu Herzen gehenden. So blieb am Ende ein gescheiterter Versuch des Regisseurs, die Kraft des Textes darstellend zu überbieten, anstatt ihr zu vertrauen.