Franz Gertsch ist am 21. Dezember 2022 gestorben. Ich habe die Kunst dieses grossen Künstlers seit Jahrzehnten beobachtet und genossen; sie war und ist für mich und mein Kunstverständnis zentral. Seit ein paar Jahren habe ich die Chance, den Stiftungsrat Museum Franz Gertsch zu präsidieren und erlebte das Glück, noch tiefer in dieses Werk einzutauchen.
Für mich sind die Werke von Franz Gertsch ein tiefes Erleben. Sie sind ein ästhetischer Hochgenuss und lösen zugleich das Gefühl aus, durch die Augen des Künstlers die Realität noch viel intensiver – ja realistischer – wahrzunehmen, als wenn ich sie selbst ansehe. Durch seinen Blick sehe ich in den Kosmos, in die Tiefe des Lebens.
Seit seiner «Erkenntnis» auf dem Monte Lema, hatte Franz Gertsch die Vision, «als objektive Einschaltung die Kamera zu gebrauchen». Von da an malte er Menschen, später Natursituationen auf Grund seiner Fotografien, die er als Dia auf eine Leinwand projizierte. Norberto Gramaccini beschreibt in «Silvia – Chronik eines Bildes» (Verlag Lars Müller), wie ein solches Bild über Monate hinweg entstand und welche Herausforderungen sich dem Künstler dabei stellten. Ein Buch, zu lesen wie ein spannender Roman.
Das Leben und die Arbeit von Franz Gertsch waren geprägt von Sorgfalt und Hingabe; von einer geduldigen unablässigen Arbeit, die kein kurzfristig zu erreichendes Ziel anstrebt, sondern eine ferne Vision vor Augen hat. Franz Gertsch wollte mit jedem Bild einen Schritt weiterkommen, sich immer neue Fragen stellen und für sie gültige Antworten finden.
Sein Umgang mit der Zeit wird zum Kontrapunkt zu unserem üblichen Tempo. Gertsch malte monatelang an einem Bild – sein Umgang mit der Zeit ist ein Schlüssel zu seinem Werk. Er gibt dem herausgerissenen Augenblick des Fotoklicks die Lebendigkeit zurück, dehnt ihn in die Unendlichkeit und lässt so das Wesenhafte des Gemalten hervortreten. In Gräsern, im Blatt eines Unkrauts, im Waldstück zu den vier Jahreszeiten, im Antlitz einer jungen Frau, in der Emotion von Patti Smith. Er holt durch seine Malerei aus einem Augenblick die Ewigkeit hervor. Dafür braucht es eine Haltung, einen Ethos – und gerade damit war Franz Gertsch vielleicht und hoffentlich zukunftweisend.
Aus der Nähe betrachtet sind seine Bilder wie abstrakte Muster. Aus ein paar Metern Distanz wird die dargestellte Realität derart intensiv, dass man fast Hühnerhaut bekommt. Franz Gertsch «ergänzt, was dem Modell zu fehlen scheint. Das, was hinzutritt, ist weniger sein Eigenes als der verborgene Kern der Sache selbst» (Gramaccini, Silvia, S. 54). «Hier liegt der grosse Unterschied zur Indifferenz des Hyperrealismus. Bei Gertsch geht es auch ein Stück weit um Wahrheitsfindung» (S. 82).
Er gibt dem herausgerissenen Augenblick des Fotoklicks die Lebendigkeit zurück, dehnt ihn in die Unendlichkeit und lässt so das Wesenhafte des Gemalten hervortreten.
Wahrheitsfindung, Wahrnehmung – hier sind wir beim Wesen künstlerischer Arbeit. Franz Gertsch fügt der Realität seinen Blick dazu, seine Wahrnehmung, seine Wahrheit. In einem Dokumentarfilm anlässlich der Eröffnung des Museums vor 20 Jahren sagt er: «Durch meine Malerei gebe ich dem Bild das Leben zurück. In der Fotografie ist der Realitätsgrad ein Selbstverständliches geworden. In der Umsetzung der Fotografie in Malerei wird diese Selbstverständlichkeit enthoben und es wird zum Ereignis.»
Die Bilder von Franz Gertsch zeigen, was Kunst ausmacht: Sie hilft uns, die Welt zu ergründen, indem sie unsere sinnlichen Wahrnehmungen bewusst macht, uns erlaubt, von unseren alltäglichen Wahrnehmungserfahrungen einen Schritt zurückzutreten und neu zu sehen. Zur Realität tritt die Wahrnehmung des Künstlers hinzu, wir sehen die Realität durch seine Augen. Wir sehen sie anders – ja, wir erleben geradezu die Freiheit, die Welt anders, neu zu sehen.
Während der letzten zwanzig Jahren durfte das Museum Franz Gertsch immer und immer wieder neue Werke von Franz Gertsch zeigen. Gegenwartskunst, soeben entstanden. Ganz offensichtlich inspirierten die Räume des Museums, aber auch das Wissen um ein treues und begeistertes Publikum in diesem Museum Franz Gertsch zu immer neuen Meisterwerken, zur konstanten Weiterentwicklung seines Schaffens.
Franz Gertsch hat bis zu seinem Tod gemalt, an neuen Projekten gearbeitet. Nun ist er, mit 92 Jahren, friedlich entschlafen. Unsere Gedanken sind bei Maria, seiner Frau, die einen enormen Anteil an seiner Entwicklung hatte, bei seiner Familie, bei ihm. Danke, Franz Gertsch, dass wir Deinen Blick in den Kosmos, in das Leben und die Zeit in so vielen Werken erleben durften und dürfen. Deine Kunst, Dein Ethos wird uns weiter begleiten.
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