Der «Bern»-Film

von Raff Fluri 1. März 2022

Die Kinemathek Lichtspiel ist eine Berner Institution von internationaler Bedeutung, dennoch lokal stark verwurzelt. Sie ist aus dem hiesigen Kulturleben nicht mehr wegzudenken. Für ihre Verdienste wurden die engagierten Filmspezialist*innen an den Solothurner Filmtagen mit dem Prix d’honneur ausgezeichnet. Doch nicht nur deshalb ist 2022 für sie ein wichtiges Jahr: Das 9.5mm-Filmformat feiert heuer sein 100-jähriges Bestehen. Zum Auftakt der Feierlichkeiten präsentieren wir hier einen Film, der in diesem Format gedreht und bearbeitet wurde.

Museum, Kino, Filmarchiv, Digitalisierung, technische Werkstätte, Bibliothek – all dies befindet sich auf der obersten Etage im Filmhaus Bern, gleich neben dem Marzili. Das Lichtspiel sammelt und erhält alles rund um das Medium Film, ist aber auch eine Anlaufstelle für Filminteressierte, Filmschaffende oder Menschen, die ihre alten Familienfilme wieder einmal ansehen möchten. Als Kino und Museum steht es allen offen.

Das Filmarchiv wuchs in den 20 Jahren seines Bestehens auf über 30‘000 Titel. Ein Sammlungsschwerpunkt ist der Amateurfilm. Dieser ist oft nahe an der Realität, so wie sie einmal war. Im Gegensatz zu Dokumentar- oder Spielfilmen, in denen immer nur ein bestimmter Aspekt oder eine fiktive Welt gezeigt werden, sind Amateurfilme vielmehr konservierte Vergangenheit. Die Filme stammen aus Schenkungen, Käufen, Zufallsfunden, aber auch aus kompletten Sammlungen, die dem Lichtspiel anvertraut wurden. So auch der Bestand des 9.5mm-Amateur-Filmclubs Bern, der sich dem speziellen Filmformat gewidmet hatte.

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2022 im Fokus: Die 9.5mm-Projektorensammlung im Lichtspiel Bern. (Foto: Raff Fluri)

Die Bezeichnung der Filmformate stützt sich auf die Breite des Filmstreifens und die Form der Transportlöcher, Perforationen genannt. Auf dem Filmstreifen befinden sich lichtdurchlässige Bilder, die in hoher Geschwindigkeit nacheinander auf die Leinwand projiziert werden und dadurch für das menschliche Auge ein bewegtes Bild ergeben. Bis ins Jahr 2012 wurden in den Schweizer Kinos noch vorwiegend Filme ab 35mm breiten Filmstreifen projiziert, erst danach hielt die digitale Projektion grossflächig Einzug.

Je breiter ein Filmstreifen, desto besser die Qualität, aber auch umso kostspieliger ist das Filmmaterial. Deshalb waren für den Amateur- und semiprofessionellen Gebrauch schmälere und somit kostengünstigere Verfahren erhältlich. Die bekanntesten sind 8mm, Super8 oder 16mm. Die Firma Pathé hat vor genau 100 Jahren ein Format auf den Markt gebracht, bei dem die Perforation nicht seitlich, sondern zwischen den Bildern angebracht wurde. Dadurch konnte auf dem 9.5mm schmalen Filmstreifen eine grössere Bildfläche und somit eine höhere Qualität erzielt werden, bei dennoch tiefen Herstellungskosten. Das Lichtspiel hat rund 2000 solche Filme.

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Vergleich der Filmformate Normal-8, 9.5mm Pathé, 16mm und 35mm. (Foto: Raff Fluri)

Es ist das früheste erfolgreiche Amateurfilmformat, in dem private Filmaufnahmen gemacht werden konnten und zugleich auch die Filmgeschichte privat erfahrbar wurde, da Pathé viele seiner Filme in 9.5mm-Versionen neu herausgebracht hatte. So sind viele hochauflösende Aufnahmen aus den 1920er und 1930er Jahren in diesem Format erhalten geblieben. Oft überlebten frühe Stummfilmklassiker komplett oder teilweise nur dank den 9.5mm Kauf-Filmen, während die Originale inzwischen längst verschwunden sind.

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Heimkino-Projektor mit eingelegtem 9.5mm-Film. (Foto: Raff Fluri)

Kein Wunder, stösst dieses Format bei der Kinemathek Lichtspiel auf besonderes Interesse: Seine Vielseitigkeit in der Anwendung, aber auch seine technischen Eigenschaften sind einmalig. All dies will ein Organisationskomitee rund um die Archivleiterin Brigitte Paulowitz im Jubiläumsjahr feiern. Es organisiert ab Sommer 2022 eine Serie von Vorführungen, Symposien in Bern und im Ausland, durchforstet die technische und filmische Sammlung des Lichtspiels nach ungesehenen Schätzen und reist gar an das renommierte Filmfestival „Il Cinema Ritrovato“ in Bologna – mitsamt einem speziell umgebauten Projektor für Grossprojektionen im Gepäck.

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Metallbehälter mit dem Film «Bern» von Paul Goy. (Foto: Kinemathek Lichtspiel, Bern)

«In den 1950er Jahren gab es bereits Normal8 und 16mm Film, und 9.5mm schien ein guter Mittelweg gewesen zu sein» vermutet Brigitte Paulowitz den Grund, weshalb eine Gruppe von Enthusiasten 1953 in Bern einen 9.5mm-Amateurfilm-Club ins Leben rief. Die Club-Mitglieder drehten eigene Filme, organisierten Vorführungen und Wettbewerbe. Der Bestand des Filmclubs kam durch seinen letzten Präsidenten Alexander Weber ins Lichtspiel, als dieser 2015 verstarb. In den Unterlagen fand man heraus, dass letzte Vorführungen des Clubs noch im Jahr 2007 durchgeführt wurden.

Im Kurzfilm «Bern» von Paul Goy und Kurt Langenegger aus dem Jahr 1976 erhält ein Kameramann von einem vielbeschäftigten Besucher den Auftrag, einen Film über Bern zu drehen, damit dieser sich eine Sightseeing-Tour ersparen kann. Der Kameramann holt seine verstaubte Kamera inklusive Handbuch für Filmeinsteiger aus dem Schrank. Der Film ist eine amüsante Komödie, die viele Anspielungen auf das analoge Filmen enthält und einfallsreich parodiert.

Bern from Lichtspiel / Kinemathek Bern on Vimeo.

Paul Goy war beruflich Lokomotivführer und drehte den Film in seiner Freizeit. Beim Betrachten des Films muss man sich bewusst sein, dass Filmamateure nicht die gleichen technischen Möglichkeiten hatten wie professionelle Filmschaffende. Eine professionelle Infrastruktur war damals für Hobbyfilmer noch nicht so einfach zugänglich wie heute in der digitalen Ära.

In welchem Zustand sich Film- und Videomaterialien heute befinden, ist stark vom Alter und den Lagerbedingungen abhängig. Der «Bern»-Film war relativ schlecht erhalten, als er dem Lichtspiel übergeben wurde. Bei der ersten Visionierung riss er mehrmals und die an beiden Rändern aufgeklebte Magnettonspur begann sich zu lösen. Eine Digitalisierung des Originals drängte sich also auf, um den Film wieder zugänglich zu machen.

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Filmdigitalisierung in der Kinemathek Lichtspiel. (Foto: Raff Fluri)