Der Bart des heiligen Christophorus

von Jovana Nikic 2. April 2024

Be(rn)trachtet Unsere Kolumnistin erzählt, wovor sie sich als Kind gruselte und weshalb sie den hölzernen Christophorus am Bahnhof Bern bis heute mag.

Hatten Sie als Kind Angst vor dem hölzernen Christophorus am Bahnhof Bern?

Ich hatte als Kind Angst im Dunkeln und vor Gewittern. Zum Einschlafen musste ich gekrault werden und hielt dabei das Ohrläppchen meiner Mutter, meines Vaters, oder halt jenes Ohrläppchen, welches in unmittelbarer Nähe war, um zu bemerken, wenn sie das Zimmer verliessen.

Meinen Eltern zufolge war meine «Raumverlassen-Erkennungsrate» bei 20 Prozent. Schwach.

Gut kann ich mich an die Abende mit unserem «Hüetimeitschi» erinnern, wenn die Eltern mal auswärts unterwegs waren.

Tagsüber wollte ich Verchleiderlä, Basteln oder eine Schneckenfarm im Tupperware züchten und abends versuchte ich so lange wie möglich wach zu bleiben.

Damals dachte ich, dass ich unglaubliche Überzeugungsfähigkeiten hätte.

«Bitte nomau es Kasettli», «Bitte nomau s‘ Regebogäfischli läsä». Sie kennen das Buch bestimmt.

Damals dachte ich, dass ich unglaubliche Überzeugungsfähigkeiten hätte.  Heute denke ich, dass sie merkte, dass ich Angst vor dem Gewitter hatte, weil meine ängstlichen Äuglein und die heruntergezogenen Mundwinkel Bände sprachen. Dann kraulte sie mein Köpfchen, bis ich einschlief.

Wenn ich am nächsten Morgen aufwachte, holte ich in der Küche das Schämeli, kletterte auf die Kombination und machte eine Ovi, wobei mehr Ovo auf der Arbeitsfläche als in der Tasse landete – was sich bis heute auch nicht verändert hat. Bin ich da die Einzige?

Häufig gingen wir am Samstag nach Bern, um uns einzudecken. Zum «Kömerle». Oft parkten meine Eltern beim Marzili, und dann liefen wir die Treppe hoch, die ebenfalls Ängste auslöste, aufgrund all der traurigen Gestalten, die mitten auf dieser Treppe sassen und von denen nicht klar war, ob sie ihr Ziel verloren, oder gar auf dieser Treppe gefunden hatten.

Bei schlechtem Wetter setzten wir uns in den BLS-Zug, ich machte Turnübungen zwischen den Armlehnen (das haben Sie sicherlich auch schon im Zug beobachtet) und so kamen wir in Bern an.

Im Slalom liefen wir an den Leuten, an den süssen Farbstift-Tierchen, am Treffpunkt vorbei und hielten bei der Christophorus Statue aus Holz. Dem grossen alten Mann mit gekräuseltem Bart, ängstlichen Äuglein und traurigen, nach unten hängenden Mundwinkeln. Dem Heiligen für alle Reisenden. Ich löste mich damals immer aus der Hand der Mutter und kraulte kurz seinen Bart.

Anders als anderen Kindern in meinem Alter machte er mir nicht Angst. Ich meinte zu glauben, dass er traurig und verängstigt war. Ich fragte mich, ob die blassen Gestalten, die um ihn versammelt mit Münzbechern sassen, der Grund dafür waren. Oder ob er traurig war, dass sie nicht weitergingen oder gar ihr Ziel schon erreicht hatten und ob er vielleicht auch so Angst vor Gewittern hatte wie ich.

Einmal meinte ich ein kleines Lächeln von ihm erhascht zu haben.

Und noch heute kraule ich den Bart nostalgisch beim Vorbeilaufen. Und sollten Sie als Kind vor ihm Angst gehabt haben, dann probieren Sie mal ihn am Bart zu kraulen.