4 Juni 1965, Bahnhof Brig. Von Mailand her fährt ein Schnellzug ein. Ein betagter Mann steigt am Arm seiner Tochter aus und steuert eine Telefonkabine an. Er kramt Münz aus dem Portemonnaie und ruft seine Frau an um ihr mitzuteilen, wann man voraussichtlich zuhause in Hünibach eintreffe. Kaum hat er aufgehängt, bricht er vor der Kabine zusammen und bleibt leblos liegen. Seine Tochter, eine Ärztin, reagiert sofort. Zusammen mit einem herbeigeeilten Sanitäter versuchen sie in den nächsten Minuten, den Mann wiederzubeleben. Erfolglos. Das Portemonnaie, das ihm beim Sturz entfallen sein muss, bleibt danach verschwunden.
So erzählt Salomo Fränkel heute, wie vor fünfzig Jahren sein Vater gestorben ist.
Der Gottfried Keller-Handel
Jonas Fränkel (* 1879) kommt aus Krakau und promoviert 1902 an die Universität Bern über die Dramentechnik des Romantikers Zacharias Werner. Nach Jahren in Zürich und Berlin, wo er insbesondere als Herausgeber von Goethe-Briefen und der Lyrik Heinrich Heines hervortritt, kehrt er 1909 nach Bern zurück, habilitiert sich und wird 1919 zum ausserordentlichen Professor ernannt, was er bis zu seiner Pensionierung 1949 bleibt. 1920 bürgert er sich ein.
Bis heute haftet Fränkel das Image einer verkrachten Existenz an. Wahr ist, dass er seit den frühen zwanziger Jahren immer mehr zur tragischen Figur der Deutschschweizer Philologie wurde, weil er gegen professorales Banausentum und eidgenössischen Chauvinismus für seine Ziele – die Herausgabe einwandfreier Editionen der Werke Gottfried Kellers und Carl Spittelers – gekämpft hat.
Und wahr ist, dass Fränkel schliesslich im Kampf gegen akademischen Antisemitismus und nazifreundlichen Opportunismus unterlegen ist: Zwischen 1926 und 1939 bringt er als Herausgeber siebzehn Bände einer kritischen Gottfried Keller-Ausgabe heraus. Danach wird ihm, wie er es später in einem Brief formuliert, die Ausgabe «von der Zürcher Regierung auf Druck der Nazi entrissen». Tatsächlich weigert sich Deutschland seit 1935 zunehmend, die Keller-Edition eines Juden in den Buchhandlungen aufzulegen. Nach Fränkels Rauswurf als Herausgeber wird die Edition von Carl Helbling, einem aus Nazisicht arischen Zürcher Gymnasiallehrer, abgeschlossen.
Es gibt noch einen zweiten Grund, warum die Zürcher Regierung Fränkel als Keller-Herausgeber 1939 weg haben will. In diesem Frühjahr erscheint von ihm ein Buch, das zweifellos zu den mutigsten gehört, die damals im Dienst einer antifaschistischen Geistigen Landesverteidigung geschrieben worden sind. Es heisst «Gottfried Kellers politische Sendung» und ist als doppeltcodierter Text eine literarische Meisterleistung: Während Fränkel sich auf der ersten Ebene kenntnisreich mit Kellers Verhältnis zu Deutschland um 1848 auseinandersetzt, finden sich auf einer zweiten immer wieder Formulierungen, die sich als Kritik am nationalsozialistischen Deutschland von 1939 lesen lassen. Beispiel: «Der Schmerz über das nicht von fremden Bedrückern, vielmehr von einheimischen Tyrannen geknechtete deutsche Volk bäumt sich in den Gedichten des jungen Gottfried Keller auf […]: ‘Was scheret uns ein freies Land, / Wenn, die drin wohnen, Knechte sind?’» (S. 35) Mit soviel suggestiver Anti-Hitlerei will die Zürcher Regierung wenige Monate vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs nichts zu tun haben.
Der Carl Spitteler-Handel
Ab 1907 bis zum Tod des Schriftstellers Carl Spitteler Ende 1924 ist Jonas Fränkel nicht nur dessen Freund, sondern auch dessen Erstleser und redaktioneller Mitarbeiter einiger jener literarischen Werke, für die Spitteler 1919 den Literaturnobelpreis erhält – und zwar nicht einfach so. 1933 führt der Schriftsteller C. A. Loosli in seinem Vortrag «Spittelers Wille und Rechte» aus: «1912 überraschte mich Fränkel mit der Frage, was ich davon dächte, wenn Spitteler den Nobelpreis erhielte. Ich war von der Frage nicht wenig überrascht, fand aber, diese Ehrung wäre mehr als nur am Platze und des Schweisses eines Edlen wert. Fränkel erklärte, er werde es versuchen. Er tat’s. Von 1912 bis 1918 hat Fränkel keine Mühe gescheut, keinen Schritt unterlassen […], bis es ihm schliesslich gelang, den Nobelpreisträger Romain Rolland für sich zu gewinnen und dann endlich, nach sechsjährigen Bemühungen und unzähligen Briefwechseln, deren Eingänge und Durchschläge, samt den dazu gehörigen Postquittungen, die bei Fränkel aufliegen und an sich ein dickes Aktenbündel bilden, Carl Spitteler mit dem ihm gebührenden Preis gekrönt wurde.»
Es versteht sich von selbst, dass Spitteler im freundschaftlichen Gespräch – aber unvorsichtigerweise nicht testamentarisch hieb- und stichfest – Fränkel mandatiert hat, nach seinem Tod die Biografie und die massgebliche Ausgabe seiner Werke zu besorgen. Warum es heute eine Spitteler-Biografie von Werner Stauffacher (1973) und eine zehnbändige Spitteler-Werkausgabe von Gottfried Bohnenblust, Wilhelm Altweg und Robert Faesi (1945-1958) gibt, ist eine Geschichte, die sich lesen würde wie ein Krimi mit dem Titel: «Bundesrat Etters Anti-Fränkel-Komplott».
Fränkel als Lehrer und Freund
Neben Antisemitismus und Chauvinismus erschwert eine Behinderung Jonas Fränkels berufliches Fortkommen: Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr ist er stark hörbehindert und kann sich in späteren Jahren nur dank eines Hörapparats mündlich verständigen. «Er war voll Misstrauen. Weil er gehörlos war», schreibt der Schriftsteller Rudolf Jakob Humm in seinem Nachruf. Dass Fränkel bei Angriffen wegen dieses Misstrauens verschiedentlich schroffer reagiert hat als nötig, hat ihm sicher auch geschadet.
Trotz der Behinderung muss Fränkel ein inspirierender Lehrer gewesen sein. «Wer je als Schüler zu Füssen von Jonas Fränkel gesessen hat, vergisst diesen Lehrer nicht», so die NZZ am 15. Juni 1965 in ihrem Nachruf: «Der Student war bei ihm strengstem Zugriff ausgesetzt, durch den in des Schülers Geist die eigenen Kräfte aufgedeckt und angespannt, doch auch die Grenzen des eigenen Vermögens ausgesteckt wurden. Seine Vorlesungen erfolgten in ausgefeilter Sprache, es war ihm eine Gabe des Ausdrucks verliehen, der stets auf die genaueste Benennung zielte, zugleich aber vom Willen zur künstlerischen Formung bestimmt war. Dazu war seine Rede auch im Unterricht gespickt von jener Lust zur Auseinandersetzung, die, ohne je das Ziel der Vermittlung gründlichster Kenntnisse aus den Augen zu verlieren, des Fechtens und des Treffens nicht müde wurde.»
Auf eine weitere hervorragende Eigenschaft seines Vaters weist Salomo Fränkel hin. In einem Brief habe dieser einmal ein sehr treffendes Kompliment erhalten: «Sie sind ein Virtuose der Freundschaft.» Wegen der Distanzen des weit gespannten freundschaftlichen Netzes und der Unmöglichkeit, per Telefon angenehm zu kommunizieren, spielte für Jonas Fränkel auch im freundschaftlichen Verkehr zeitlebens die schriftliche Mitteilung eine grosse Rolle. Allein in den Nachlässen von Spitteler, Loosli und Humm liegen insgesamt um die dreitausend Karten und Briefe von Jonas Fränkel.