Wozu braucht es eine Schweizer Geschichte? Diese Frage kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Wozu eine Geschichte über die Schweiz schreiben? Oder wozu überhaupt Geschichte «machen»? Mit diesen und anderen Fragen haben sich gestern Abend in der Nationalbibliothek, vier renommierte Persönlichkeiten der Schweizer Geschichtswissenschaft auseinander gesetzt. Beatrix Mesmer, emeritierte Professorin der Universität Bern, welche als «Grande Dame der Schweizergeschichte» gilt. Elisabeth Joris, die zahlreiche Beiträge zu Frauen- und Geschlechtergeschichte der Schweiz publizierte; Georg Kreis, ebenfalls emeritierter Professor und profunder Kenner der neueren Schweizer Geschichte.
«Wozu eine Geschichte über die Schweiz schreiben?»
Ausserdem ist Kreis Herausgeber des als Gemeinschaftswerk von über dreissig Autorinnen und Autoren konzipierten Geschichtsbandes „Die Geschichte der Schweiz“, welcher dieses Jahr erscheint. Als vierter Gast sass auf dem Podium noch Thomas Maissen, der 2010 die neuste Übersichtsdarstellung «die Geschichte der Schweiz» herausbrachte, welche zum Bestseller wurde. Dieser überwältigende Erfolg, so die verbreitete Meinung, sei Ausdruck eines veritablen Geschichtsbooms. «Die Bevölkerung interessiert sich mehr, weil unser Thema eine allgemeine Unsicherheit über die Zukunft des Landes bedient», so Thomas Maissen. Diesem Standpunkt haben Georg Kreis und Elisabeth Joris widersprochen: Kreis sieht bloss «Wellen auf einem grossen Meer», Joris ergänzte: «Das Interesse an der Geschichte des eigenen Landes verhält sich wellenartig, es steigt und sinkt.» Tatsache ist: Maissens Buch wurde so oft verkauft, wie lange kein Geschichtsbuch mehr. Der Moderator Urs Hafner, Autor der NZZ und selber Historiker, stellte die Frage in den Raum, ob dies damit zu tun habe, dass die Leute aufgrund der Globalisierung, sich wieder mehr auf ihre eigene, nationale Identität berufen. Maissen ist überzeugt, dass sich Kollektive für die Entscheidungsfindung über ihre Vergangenheit definieren. Somit stellen sie sich die Frage: Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Gerade deswegen sei es auch so wichtig, dass sich Historiker als Fachleute an diesem wichtigen selbstverortenden Diskurs beteiligen.
«Supranationalität schafft nationale Identität nicht ab».
Georg Kreis
Dass Schweizer Geschichte geschrieben wird, ist auf jedenfalls wichtig. Und dass dabei auch alle Sprachregionen miteinbezogen werden sollte eigentlich als selbstverständlich gelten, erklärt Mesmer. Als sie 1986, zusammen mit anderen Autoren das Buch «Geschichte der Schweiz und der Schweizer» veröffentlichte, haben sie bewusst auch mit Historikerinnen und Historikern aus dem französisch- und italienischesprachigen Teil der Schweiz zusammengearbeitet. Zu dieser Zeit kam es im universitären Alltag sehr selten zu sprachübergreifender Zusammenarbeit. Aber gerade wenn eine Geschichte der gesamten Schweiz geschrieben werden soll, ist dies unabdingbar: «Wenn man den Anspruch hat eine Schweizer Geschichte zu schreiben, muss man sich bewusst sein, dass man in einem Land mit mehreren Sprachen und Kulturen lebt.» Neben den sprachlichen Herausforderungen, steht man bei Verfassen eines geschichtlichen Werks jedoch noch vor anderen Problemen. Es bestehe, so Mesmer, eine Kluft zwischen der breit-veröffentlichten und populären Geschichtsliteratur und der Literatur, welche an den Universitäten zu spezifischen Forschungszwecken verwendet wird.
«Wie bleibt der Inhalt richtig, wenn ich Komplexität reduziere?»
Elisabeth Joris
Mit dieser Herausforderung, hat sich auch Elisabeth Joris schon auseinandergesetzt. Sie stellt sich die Frage: «Wie bleibt der Inhalt richtig, wenn ich Komplexität reduziere?» Joris ist aber überzeugt, dass dies machbar ist: «Man muss einen narrativen Strang finden, denn Geschichtsbücher für die Allgemeinheit müssen einen Anfang und ein Ende haben.» Gleichzeitig sei es aber wichtig, die Formulierungen offen zu lassen, damit klar ist, dass es noch viele andere Arten gäbe, über dieses bestimmte Thema zu schreiben. Kreis ergänzt in fast schon philosophischer Manier: «Der Anfang ist nie der Anfang und das Ende nie das Ende.» Zum Schluss sind sich alle einig: Schweizer Geschichte ist wichtig! Gerade für die «Willensnation Schweiz». Das Land, welches nie eine Dynastie hatte, in dem verschiedene Sprachen gesprochen werden und verschiedene Kulturen aufeinander treffen, ist für seinen Zusammenhalt – stärker als andere Ländern – auf eine ganzheitliche, schlüssige und alle Landesteile miteinbeziehende Erzählung über die Vergangenheit angewiesen.