Den nötigen Wohnraum schaffen oder für Bedenkzeit sorgen?

von Noah Pilloud 7. März 2023

Nächsten Sonntag stimmt die Berner Stimmbevölkerung über die Infrastrukturkredite der Überbauung Viererfeld ab. Journal B hat die Stadträtin Tanja Miljanović (GFL) vom Ja-Komitee und den Architekten und Stadtplaner Arpad Boa vom Nein-Komitee zum Streitgespräch geladen.

Journal B: Wenn ihr auf das Viererfeld hinaus schaut, was seht ihr?

Tanja Miljanović: Das Erste, was ich denke: Wenn die Überbauung jetzt schon stehen würde oder vor zehn Jahren schon gestanden wäre, hätte ich nie aus der Länggasse wegziehen müssen.

Arpad Boa: In hundert Jahren sehe ich hier ein lebendiges Stadtquartier mit Siedlungen, Grünräumen, Plätzen, Piazzen, einer Pläfe und einer Brücke. Diese verbindet die zwei Quartiere Breitenrain und Länggasse mit je 25’000 Einwohner*innen. Ich stelle mir ein durchmischtes Quartier vor mit verschiedensten Wohnformen und verschiedensten Formen wirtschaftlicher Aktivität. Im Viererfeld wohnen dann 15’000 Leute. Die Mindestgrösse, die es braucht, damit ein Quartier eigenständig funktioniert und den täglichen Bedarf seiner Einwohner abdecken kann. 

TM: Du sprichst von 15’000 Leuten?

AB: Genau! Es hat Platz bis zur Autobahn. Der Wald wäre nicht mehr da. Achtung: Wir sprechen hier von in hundert Jahren.

Als Städtebauer haben wir quantitative Kriterien, mit denen wir herausfinden können, ob ein Wohnquartier zum Fliegen kommt oder nicht.

TM: Auf die nächsten Jahre hinaus wären 3’000 Menschen auch schon gut.

AB: Ein solcher Anfang wäre gut. Aber man muss ihn richtig stricken – und die wichtigsten Elemente im Städtebau beachten, etwa ein gutes Strassenraster. Wie ein Imker Waben in den Kasten stellt und dann füllen sie sich mit Leben. Im Viererfeld ist es extrem einfach, eine solche organische Stadterweiterung umzusetzen.

Was genau stört dich am Projekt, so wie es Stand heute geplant ist?

AB: Das aktuelle Projekt basiert nicht auf einem stadtplanerischen, räumlichen Entwicklungskonzept. Als Städtebauer haben wir quantitative Kriterien, mit denen wir herausfinden können, ob ein Wohnquartier zum Fliegen kommt oder nicht. Da kann man noch so viele Erdgeschossnutzungen vorschlagen, es wird mit 3’000 Leuten einfach nicht funktionieren. Wir haben nicht genug Frequenzen, und die sind das A und O. Bei meiner Vision ist die Idee, dass zuerst Millionen in die Brücke, die Brückenköpfe und all die öffentlichen Elemente, die den Städtebau schön machen, investiert wird. Dann passiert Folgendes: Täglich pendeln Leute via Viererfeld zwischen Breitenrain und Länggasse, Ostermundigen und Bümpliz. Sofort entstehen Läden. Mit der tollen Aussicht werden in den oberen Etagen die besseren Adressen hier Platz finden. So wird das Ganze allein durch die Frequenzen, die durchs Terrain geführt werden, finanziert. Ermöglichen statt dekretieren!

Du sagst, dass es dir um die Gesamtvision geht und dass dir diese bisher fehlt, Arpad. Wie siehst du das Tanja, braucht die Stadt Bern eine Vision für die weitere Raumentwicklung?

TM: Die Stadt will Zehn- bis Fünfzehnminutenquartiere haben. Genau danach baut sie auch. Das ist vielleicht eine andere Vision als du hast, Arpad, aber es stimmt nicht, dass die Stadt keine Vision hat. Die Stadt muss Projekte realisieren, die umsetzbar sind. Das Viererfeld-Projekt ist noch auf eine andere Art visionär: Mit den Solardächern, der Begrünung, der Fernwärme und den Erdsonden. Wir brauchen Projekte, die von der Bevölkerung her durchmischt aber auch in Sachen Klima visionär sind. Der CO2-Ausstoss pro Kopf wird für die ganze Stadt dank dieses Quartiers gesenkt, weil es eine 2000-Watt-Siedlung ist. Klar brauchen wir noch sehr viel mehr, aber wir brauchen eben auch das.

(Foto: Janine Schneider)

Scheint, als hättet ihr beide dasselbe Ziel: ein lebendiges und nachhaltiges Quartier auf dem Viererfeld.

AB: Wir sprechen hier eigentlich über das politisch Machbare und das stadtplanerisch Notwendige, um für den Stadtorganismus eine gute Basis zu haben. Du, Tanja, stehst mehr für die kurzfristigen Ziele und ich für das grosse Ganze. 

TM: Ich finde, es ist nicht so kurzfristig. Wie du gesagt hast, braucht es eine gewisse Grösse, damit ein Quartier überhaupt richtig leben kann. Aber das geplante Quartier ist gerade eben nicht einfach irgendwo auf dem Acker draussen, sondern wird wie ein zusätzliches Loopsträsschen direkt an das Länggass-Quartier angeschlossen sein. 

Am 12. März geht es nun aber um etwas ganz Konkretes: Wir stimmen über die Infrastrukturkredite ab, damit das Projekt gestartet wird. Kommt diese Diskussion nicht zu spät? Arpad, was bringt ein Nein aus deiner Sicht überhaupt?

AB: Ein «Nein» bringt Zeit, die Aufgaben anzugehen, die verschlafen wurden. Es ist nicht zu spät, aber es muss eingesehen werden, dass es für die Gesamtstadt als Organismus schädlich wäre, das Viererfeld so zu bebauen. Wir legen für kommende Generationen die Grundlage zur Weiterentwicklung zur postfossilen Stadt der kurzen Wege. Und diese braucht die letzte Hochbrücke im historisch gewachsenen Brückensystem von Bern: die Viererfeldbrücke.

TM: Aber dafür haben wir kein Geld.

AB: Doch, haben wir. Die Brücke kostet nicht mehr als die Infrastrukturleitungen und Abwasserleitungen, über die wir nun abstimmen.

TM: Die Wohnungen brauchen wir jetzt, die Bücke noch nicht zwingend. Auf die können wir noch 20 Jahre warten. 

AB: Aber dann müssten wir zumindest die Zulaufstrecken mit einplanen.

(Foto: Janine Schneider)

Vor drei Wochen hat der Gemeinderat eine Medienmitteilung herausgegeben, in der er einen Masterplan für eine zukünftige Fuss- und Velobrücke zwischen Breitenrain und Länggasse vorstellte.

AB: Und exakt so, wie ich sie vor fünf Jahren empfohlen habe. Das Problem ist aber, dass der Gemeinderat die Direktionen angewiesen hat, auf der Wifag-Seite mit den Eigentümern die Verhandlungen zu führen. Darüber bin ich froh. Aber der Gemeinderat hat es verpasst, die zwei Anliegen auf der Westseite, die schon lange im Raum stehen, miteinander zu harmonisieren. Das ist ein Kardinalfehler der Stadtplanung. Die Linienführung der Brücke wird nicht weitergezogen und stattdessen würde durch Immobilien, die an Private verkauft werden, ein Riegel gesetzt. Ein klarer Fall von Privatinteressen die das langfristige öffentliche Interesse übersteuern.

TM: Wenn ich deine Pläne richtig lese, plant die Stadt den neuen Brückenkopf weiter südlich – direkt über dem Tiefenautunnel. Zudem soll meiner Meinung nach gerade eben nicht eine neue Strasse als gerade Fortführung der Viererfeldbrücke durchs Länggassquartier führen. Eine derartige Verkehrsführung wäre nur für den Autoverkehr notwendig aber eine zusätzliche Autobrücke würde eine enorme Mehrbelastung sowohl für das Länggassquartier als auch für den Breitenrein bedeuten. Das ist nicht mehr zeitgemäss. Die Stadt will und soll den Verkehr für den MIV (motorisierter Individualverkehr Anm. d. Red.) explizit nicht zu einfach machen. Velo, Fuss und öV auf der Viererfeldbrücke reichen vollkommen aus. 

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AB: Ich verstehe deine Befürchtung. Die Strassen, die ich mir vorstelle, sind absolute Langsam-Verkehrsstrecken. Da fährt niemand schneller als zwanzig Kilometer pro Stunde. Ich denke an eine grosse breite Brücke mit repräsentativen Trottoirs, die eine Panoramafunktion hat und gleichzeitig für den Verkehr der Zukunft gebaut wird – viel kleinere, elektrische Autos

TM: Wenn die Stadt klug in die Mobilität investiert, damit jene, die nicht zwingend ein Auto brauchen, darauf verzichten können – dann braucht es dort bei der Brücke keine Autos.

Wäre denn die Verbindung zwischen Breitenrain und Länggasse nicht als autofreie Strasse denkbar?

AB: Das grosse Problem ist, dass wir den städtischen Verkehr über die Autobahnen abwickeln. Heute funktioniert 80 Prozent des innerstädtischen Verkehrs so, dass ein Liftmonteur in Bümpliz auf die Autobahn geht, mit 100 Kilometer pro Stunde eine enorm lange Strecke zurücklegt und am anderen Ende der Stadt wieder reinfährt. Wir müssen das so umdenken, dass der Monteur in einem kompakten Elektroauto oder Elektrovelo über diese Brücke kommt und innerhalb von zehn Minuten mit Material und Werkzeug bei seinem Kunden ist. Dann hätten wir die Stadt der kurzen Wege.

Wir brauchen grosse Wohnungen für Familien, aber wir brauchen auch viele kleine, günstige und ins Quartier integrierte für ältere Menschen.

TM: Gut, aber wir sind ja beispielsweise beim Grauholz gegen den Ausbau der Autobahn, weil wir wissen, dass mehr Strassenfläche mehr Verkehr schafft. Genau das gleiche würde hier passieren. Es wäre schon schön, wenn der Monteur so über die Brücke fahren könnte, sie würde aber auch von ganz vielen anderen Fahrzeugen genutzt.

Tanja, du hast zuvor angesprochen, dass die Überbauung auf dem Viererfeld in Sachen Klima visionär sei. Braucht es nicht gerade jetzt solche zukunftsweisende Projekte, Arpad?

AB: Das Klima ist auch eine meiner Hauptsorgen. Der Bausektor ist weltweit für 38 Prozent der Klimagase verantwortlich. Für mich steht momentan ein Moratorium des Neubaus im Zentrum. Diese ganzen Investitionen müssen sofort in den Altbaubestand umgelagert werden. Den müssen wir sanieren, damit nicht zu viel Energie verbraucht wird.

TM: In Bern herrscht eine akute Wohnungsnot. Zusätzlich haben wir heute ungefähr 130’000 Pendler. Wir müssen diesen Leuten zwar Infrastruktur bereitstellen aber sie bezahlen uns keine Einkommenssteuer, da sie nicht hier wohnen können. Ausserdem wird die Bevölkerung der Schweiz und damit Berns weiter wachsen.

Den Punkt mit dem Bevölkerungswachstum würde ich gerne aufnehmen. Ist es aus stadtplanerischer Sicht nicht sinnvoll, dem zukünftigen Wachstum Rechnung zu tragen?

AB: Vom Jahr 1960 bis heute, also in ungefähr 60 Jahre Wohnbautätigkeit in der Gemeinde Bern, haben wir laut Statistik 22’000 Bernerinnen und Berner verloren und 21’000 Wohnungen zusätzlich hin gebuttert. Ich frage mich schon, wofür wir genau Wohnungen bauen. 

(Foto: Janine Schneider)

TM: Bei der Bevölkerung über 60 Jahre gibt es ganz viele Ein- bis Zweipersonenhaushalte, die in riesigen Wohnungen bleiben, weil sie schlicht nichts anderes vermögen. Sie sind in den Sechziger- bis Achtzigerjahren in eine 4.5- oder 5.5-Zimmerwohnung gezogen. Heute leben sie von einer Rente und der AHV und können sich auf dem Wohnungsmarkt keine 2.5-Zimmerwohnung leisten, da diese extrem teuer geworden sind. Wir brauchen deshalb zwar grosse Wohnungen für Familien, aber wir brauchen auch viele kleine, günstige und ins Quartier integrierte für ältere Menschen. 

AB: Das ist ein super Ansatz und dort wäre die Politik wirklich gefragt. Für die Wohnungsnot ist das Viererfeld ein Tropfen auf den heissen Stein. 

Es mag ein Tropfen auf den heissen Stein sein. Wenn wir aber nun beim Projekt Viererfeld die Handbremse ziehen, verschärft das nicht unnötig die akute Wohnungsnot?

AB: Die ist überhaupt nicht akut.

Bezahlbarer Wohnraum in der Stadt Bern ist jedenfalls sehr knapp.

AB: Absolut! Aber das liegt daran, dass der bezahlbare Wohnraum Altbauwohnungen sind. Wenn du eine Altbauwohnung bewohnst, zahlst du im Schnitt 800 Franken. In Zürich war das vor zehn Jahren noch so. Wenn die nun abgerissen werden, dann steigen die Mietpreise um den Faktor 2,1. 

TM: Es ist alles extrem teuer, auch Altbau.

Ist es für eine rot-grün regierte Stadt nicht schade, dass bei so einem Vorzeigeprojekt nur die Hälfte aller Wohnungen bezahlbarer Wohnraum sein soll?

TM: Nein, ich glaube wirklich sehr stark an die Durchmischung. Kapitalstarke Investoren können meistens gewährleisten, dass eine gute Infrastruktur entsteht. Kapital ist zudem nicht nur Geld sondern auch Zeit, Vernetzung und damit Macht. Es braucht unbedingt in jedem Quartiert auch marktorientierte Mieten – für die soziale Durchmischung im Quartier, ja, aber auch, um die Chance zu erhöhen, dass die Besitzer*innen dieses angemessen pflegen. Wir dürfen keine Ghettos wie zum Teil in anderen Städten bauen.

Wäre denn zum Beispiel ein Verhältnis von zwei Dritteln zu einem Drittel nicht auch möglich gewesen?

TM: Das wäre vielleicht auch möglich gewesen. Die Gefahr wäre dort von politischer Seite gegeben, dass es ein Referendum hätte geben können. Ob es jetzt die Hälfte ist oder Zweidrittel – es war klar, ein bedeutender Teil muss günstig sein. Man hat versucht, eine Mitte zu finden, damit das Projekt überhaupt weitergehen kann. 

AB: Hier muss ich ein grosses Fragezeichen setzen. Günstig und Neubau – das widerspricht sich. Es wird immer ein Projekt sein, dass für besser Gestellte ist. 

TM: Anfangs wird es teuer sein. Weil die ganzen Infrastrukturkosten sowie ein Neubau sehr teuer sind. Aber zwanzig Jahre später wird das günstiger Wohnraum sein. 

(Foto: Janine Schneider)

Um den Zeithorizont nochmals nahe auf den Abstimmungssonntag am 12. März. heranzuziehen. Wenn jetzt ein Nein bei der Abstimmung herauskäme: Das Nein-Komitee ist breit aufgestellt und speist sich aus verschiedensten Argumenten. Wie würde sich ein Nein überhaupt interpretieren lassen? Du, Arpad, bist zwar nicht grundsätzlich dagegen, dass das Gebiet überbaut wird, andere aus dem Komitee hingegen schon. Wie sollte es politisch weitergehen?

AB: Der Neuanfang wäre eine Riesenchance, dem Städtebau die Bedeutung zu geben, die er die letzten zwanzig Jahre nicht hatte – als Grundlagenwissenschaft, bevor man Areale bebaut. Die Klimathematik ist aber nicht vom Tisch. Man muss der Bevölkerung konsistente Grünräume anbieten können und nicht Pseudostadtteilparks, die nach dem 24. Dezember 2054 wieder an den Kanton zurückfallen und die dieser plötzlich wieder als Bauland betrachtet.

Tanja, wie würdest du es sehen, wenn die Stimmbevölkerung am 12. März Nein sagen würde?

TM: Das wäre eine mittlere Katastrophe. Man würde eines der besten Projekte, die die Stadt bisher geplant und mitfinanziert hat, versenken, und den ganzen Wohnungsbau um Jahre zurückwerfen. Es würde sogar den gesamtstädtischen CO2-Absenkpfad verschlechtern. Denn die Siedlung würde trotz Neubau dazu beitragen, dass der CO2-Ausstoss gesenkt werden könnte. 

AB: Das überrascht mich jetzt. Normalerweise braucht ein Neubau 80 Jahre, um das beim Bau verursachte CO2 zu amortisieren.

TM: Das ist so in der Abstimmungsbotschaft festgehalten, die genauen Zahlen lassen sich vermutlich beim Amt für Umwelt einfordern. Hinzu kommt auch das neu gedachte Mobilitätskonzept. Neben Cargo-Bikes könnten zum Beispiel bidirektionale Mobility-Elektroautos zum Einsatz kommen, die bei Schönwetter mit dem Überschuss der Solaranlagen aufgeladen werden und in der Nacht oder bei Schlechtwetter den Strom wieder abgeben können. Ein Nein würde uns um Jahre zurückwerfen. 

AB: Es wäre sehr schön, wenn deine positive Vision in Erfüllung ginge. 

TM: Aber ohne positive Visionen kommt man ja nirgendwo hin. Ich bin auch positiv gestimmt, weil sich die Stadt schlicht die Fehler ihrer eigenen Bauvergangenheit nicht mehr leisten kann. Sie muss und wird es nun besser machen.

(Foto: Janine Schneider)