Den Männern wird oft nicht geglaubt

von Christof Berger 24. Februar 2022

Im Mattenhofquartier wohnt Sieglinde Kliemen. Sie leitet eine für die Schweiz einzigartige Institution, die ihren Sitz in Bern hat: das Männerhaus «ZwüscheHalt». Ein Portrait.

«Weshalb wird eigentlich davon ausgegangen, dass bei häuslicher Gewalt immer der Mann der Täter ist und die Frau immer das Opfer?» Sieglinde Kliemens Augen sprühen, wenn sie diese rhetorische Frage stellt. Das Klischee macht ihr das Leben schwer. Seit den Achtzigerjahren gibt es in praktisch allen grösseren Städten Frauenhäuser, die ein wichtiges Bedürfnis abdecken. Eine adäquate Infrastruktur für Männer fehlt noch weitgehend und wird als unnötig erachtet. Doch hält die Gleichung «Mann schlägt, Frau ist Opfer» der Realität nicht stand. Die Polizei rapportiert denn auch bei 43 % ihrer Einsätze häusliche Gewalt betreffend «gegenseitige oder unklare Gewalt». Das werde aber ignoriert, sagt Kliemen. Frauen seien oftmals sehr effizient in psychischer Gewalt, beispielsweise durch systematisches Kontrollverhalten oder abwertende Sätze und Gesten. Oder der Mann werde dazu instrumentalisiert, die Kinder zu schlagen («Wart nume, bis der Vatter heichunnt»). In der Schweiz werde die Tatsache völlig negiert, dass es manchmal auch nötig sei, Kinder vor der Mutter zu schützen.

Eines von zwei Männerhäusern

Seit rund vier Jahren leitet Sieglinde Kliemen in Bern eines der beiden Männerhäuser der Schweiz, ein Haus, in welchem Männer in konfliktbeladenen Situationen zur Ruhe kommen und sich Hilfe holen können. Sie sei eher zufällig auf die Thematik häuslicher Gewalt gegen Männer gestossen und habe recherchiert. Tatsächlich gibt es ein grosses Bedürfnis, aber kaum Angebote für Männer. Sie stiess dann auf den im April 2013 gegründeten Verein «ZwüscheHalt», welcher damals ein «Väterhaus» im Kanton Aargau betrieb. Dieses hatte allerdings den Nachteil, dass es ziemlich abgelegen war, die Bewohner also nur unter grossem Aufwand beispielsweise an ihre Arbeitsstellen gelangen konnten. Deshalb musste es wieder aufgegeben werden. Das Haus in Bern mit bis zu acht Plätzen liegt nun relativ zentral. Ein weiteres Angebot gibt es zudem in Luzern, allerdings mit lediglich Platz für drei bis vier Personen. In Zürich wird gegenwärtig noch nach einer geeigneten Liegenschaft gesucht.

Keine öffentlichen Gelder

Der Verein ZwüscheHalt finanziert sich rein privat und erhält keine öffentlichen Gelder. «Weil wir keine strikte Opfer/Täter-Perspektive einnehmen, wirft man uns teilweise Unprofessionalität vor», erklärt Kliemen. «Dabei ist eine solche Stigmatisierung doch alles andere als deeskalierend. Jeder Täter und jede Täterin war auch einmal Opfer. Oft wird gewalttätiges Konfliktverhalten über viele Generationen weitergegeben. Wir versuchen das aufzubrechen, die Eigenverantwortung zu stärken. Das Problem vieler Männer ist, dass sie sich als Versager empfinden, wenn sie ihre Konflikte nicht selbst lösen können. Das lässt sie lange durchhalten im Stress der Gewalt. Viele sind total erschöpft, wenn sie bei uns anklopfen. Die Unterstützung von betroffenen Vätern mit Kindern liegt uns sehr am Herzen. Der Blick auf das Kindswohl ist prioritär. So sprechen wir wenn möglich auch mit der Gegenseite. Die Kinder sind die Notleidenden, wenn diese Konflikte nicht entschärft werden können.»

Die Unabhängigkeit von öffentlicher Finanzierung gibt dem Verein gewisse Freiheiten, schränkt durch die Knappheit der Mittel aber auch ein. So müssen die betroffenen Männer ihren Aufenthalt in der Regel aus der eigenen Tasche bezahlen. Und das Team des ZwüscheHalt arbeitet nach Bedarf und auf Mandatsbasis. Immerhin – nicht alle betroffenen Männer brauchen unmittelbaren Schutz. Oft genügt auch eine Beratung, das Aufzeigen von Möglichkeiten und Perspektiven, beispielsweise, wenn jemand sich trennen will.

Minderheitenpositionen gewohnt

Sieglinde Kliemen ist in Rumänien, genauer Siebenbürgen, während der Diktatur als Mitglied der deutschen Minderheit aufgewachsen. Daher ist sie sich gewohnt, eine Minderheitenposition zu vertreten, denn sie wurde früh mit Pauschalisierungen und Stigmatisierungen konfrontiert. Das habe sie gelehrt, zu differenzieren. Sie emigrierte nach der Wende nach Deutschland und später in die Schweiz, leitete jahrelang Informatik-Projekte, bevor sie eine Ausbildung in Systemischer Beratung an der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit absolvierte. Seit 2011 berät sie in ihrer eigenen Praxis in Bern Einzelpersonen und Paare. Sie wohnt im Mattenhofquartier, das sie für seine Ruhe und seine Bioläden schätzt. Am liebsten kauft sie im Biolino/Fischermätteli-Lade ein.

 

Quelle: Quartiermagazin Stadtteil 3 Nr. 216/2022