Marta Dziewańska, Ihre Sammlungsausstellung «Anekdoten des Schicksals» überlässt es den Bildern und Objekten, Geschichten zu erzählen. Gibt es ein Werk in der Sammlung, das den Ausschlag für das Storytelling der Ausstellung gab?
Marta Dziewańska: Es war weniger ein einzelnes Bild, dessen Spur ich verfolgte. Vielmehr war es eine Künstlerin, die ich bei der Arbeit «Alles zerfällt», meiner ersten Sammlungsausstellung, entdeckt habe: Annie Stebler-Hopf. Sie war der eigentliche Ausgangspunkt: Ihre Gemälde waren für mich eine totale Entdeckung. Mein Traum war, eine monografische Ausstellung dieser leider völlig vergessenen Künstlerin zu organisieren. Also machte ich einen öffentlichen Aufruf, um mögliche Sammler*innen zu finden. Ich fand zwar welche und traf auch entfernte Verwandte, aber es kam nicht genug zusammen.
Sie merkten, dass Sie ihre Geschichte nicht rekonstruieren konnten?
Absolut. Annie Stebler-Hopf, eine Zeitgenossin von Ferdinand Hodler oder Albert Anker, war in der Geschichte völlig abwesend – im Gegensatz zu den männlichen Künstlern. Dieses Fehlen jeglicher Erzählung über sie wurde zum Ausgangspunkt für meine aktuelle Ausstellung und die Idee, die Bilder selbst erzählen zu lassen. So machte ich mich auf die Suche nach weiteren vergessenen Werken und Künstler*innen.
Sie zeigen viel Kunst von Frauen.
Sie sind meist die Unbekannten in den Archiven. Viele Sammlungswerke, die mutmasslich von Künstlerinnen stammen, sind gar unsigniert. Darum geht es mir in der Ausstellung: Ich will den Kanon nicht ganz kippen, aber etwas aus der Balance bringen, indem ich ihm Arbeiten beigeselle, die sonst nicht ausgestellt werden.
Sie lassen die gezeigten Werke untereinander in einen Dialog treten. Wie merkten Sie, welche Arbeiten zusammen funktionieren?
Die Kuration war im wahrsten Sinn explorativ, eine Entdeckungsreise durch die Sammlung und die Archive. Zu Beginn meiner Recherchen wusste ich nicht, worauf ich stossen würde. Ich musste mich also ganz auf die Werke, die ich vorfand und teils zum ersten Mal anschaute, verlassen. Doch die Geschichten kamen von selbst.
Bekannte Künstler und ihre Werke sind ebenfalls vertreten. Sie sind allerdings von ihrer unbekannten, instabileren Seite zu sehen. So gibt es Fotografien von Ferdinand Hodler, die ihn selbst ins Bild rücken, indem sie ihn etwa beim Malen zeigen, oder als kleine Figur vor seinen übergrossen Frauenfiguren.
Ein Glücksfund. Mein Herz schlug höher, als ich sie dank Nadine Franci, einer Sammlungsmitarbeiterin, in einer Archivkiste entdeckte. Es handelt sich um Aufnahmen, die Gertrud Dübi-Müller, selbst Künstlerin, von Hodler machte, während er sie in seinem Studio porträtierte. In der Ausstellung zeige ich das Porträt, das Hodler von ihr schuf – und das Foto, mit dem Dübi-Müller diesen übergrossen Künstler selbst in den Blick nimmt.
Die Muse, die zurückblickt?
Genau! Es ist dieser weibliche oder marginale Blick, mit dem ich den Kanon absuchen will. Oft waren die Frauen, deren Arbeiten ich zeige, selber bisher eher als Schülerinnen, Assistentinnen oder Modelle der Männer bekannt. Meine Ausstellung will diese Machtdynamik «Meister und Muse» in Bewegung bringen. Das ermöglicht einen neuen Blick auf die Kunstgeschichte. Wichtig ist mir aber, dass die Frauen dabei als starke und grosse Künstlerinnen hervortreten. Der aktuelle Trend, Kunst zu zeigen, nur weil sie von Frauen stammt, sagt mir nichts. Mich interessieren starke Werke.
Viele der Exponate sind nicht grossformatige Tableaus, sondern entstanden auf Papier. Hatten Sie nicht Angst, diese eher unspektakulären Arbeiten zu zeigen?
Angst nicht, aber ich bin neugierig, wie und ob sich das Publikum auf die Kunst in den Vitrinen einlässt. Dass wir so viele Drucke, Skizzen und Zeichnungen zeigen, hängt eben auch mit der Lebenswelt der gezeigten Künstler*innen zusammen: Viele davon, besonders Frauen, waren in einen Alltag als Gattin und Mutter eingespannt. Die Zeit und die finanziellen Mittel, um grossformatige Kunst zu machen, fehlte ihnen. Deshalb schufen sie oft flüchtigere Arbeiten. Sichtbar wird das etwa in den Papiercollagen der Klee-Schülerin Petra Petitpierre. Es sind Bastelarbeiten, die sie für ihr Kind machte. Aber gerade mit ihnen tritt sie aus den Fussstapfen Klee heraus.
Der aktuelle Trend, Kunst zu zeigen, nur weil sie von Frauen stammt, sagt mir nichts. Mich interessieren starke Werke.
Zu den Exponaten liefern Sie kaum Begleittexte. Stattdessen haben Schriftsteller*innen wie Dorothee Elmiger, Eva Maria Leuenberger oder Melinda Nadj Abonji Lyrik, Prosa, aber auch manifestartige Texte verfasst, die durch die Ausstellung begleiten. War es nicht schwierig, als Kuratorin zurückzutreten?
Nein, überhaupt nicht. Wir arbeiteten eng miteinander, ich erklärte ihnen mein Vorgehen und betrachtete die Werke mit ihnen, danach hatten sie freie Hand. Ich wollte damit auch gezielt meine Autorinnenschaft relativieren. Im Blick auf die Ausstellung erschien mir das völlig natürlich. Wenn man bedenkt, dass die Kunstgeschichte voller Lücken, Auslassungen oder ungerechtfertigter Verwerfungen ist, fällt es schwer, an eine Metaerzählung zu glauben, an einen objektiven Standpunkt, der die Geschichte so erzählen kann, «wie sie ist». Daran glaube ich nicht. Geschichte ist dynamisch und nur unsere Neugier und Aufmerksamkeit können ihren Reichtum und ihre Nuancen zum Vorschein bringen.
Nadj Abonji schrieb mit «Zug um Zug» eine Art Umweltmanifest, inspiriert von Landschaftsbildern, Dorothee Elmigers Erzählung «Entre Nous» kreist um Familien- und Mutterporträts wie Giacomettis «Riflesso el tramonto» oder Amiets «Mutter und Kind». Hat Sie selber verblüfft, wie unterschiedlich die Texte wurden?
Ja und nein. Ich freute mich über die überraschenden Perspektiven und die Polyphonie, aber überrascht hat es mich nicht. Donna Haraways feministischer Blick auf Wissensordnungen ist mir nah: Die Bilder führen ein Eigenleben und die unterschiedlichen Perspektiven verändern auch die Bedeutung. Die Ausstellung ist sehr verspielt und entzieht sich einer linearen Erzählung. Aber Kunst ist ohnehin relational und nie fix.
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Darf das Publikum unterwegs auch seine eigenen Geschichten entdecken?
Unbedingt, das hoffe ich doch. Wenn Schriftsteller*innen ihre Geschichten dazu erfinden, dann sollen es alle tun. Wir sollten ohnehin mehr in der Kunst erzählen. Denn übers Erzählen vervielfältigen, verkomplizieren und verändern sich die Geschichten.
Sie verlassen das Kunstmuseum Bern in Richtung Belgien, ins Kanal – Centre Pompidou in Brüssel. Gibt es ein Gemälde, das Sie mitnehmen würden?
Haha! Gute Frage. Ich packe sie alle ein! Im Ernst: Ich bin nicht so sehr an «Meisterwerken» interessiert, sondern mehr an den Beziehungen zwischen den Werken, also nehme ich sie eigentlich alle ideell mit. Ihre Geschichten werden in meine zukünftigen Projekte einfliessen. Ich habe sehr viel aus dieser Sammlung gelernt.