Den Himmel anzetteln auf Erden

von Guy Krneta 30. November 2013

Mit der Tagung «Grenzverkehr» der Theologischen Fakultät Zürich wurde der Schriftsteller und Theologe Kurt Marti (*1921) gewürdigt.

«Jetzt bin ich nicht nur betagt, jetzt werde ich auch noch betagt», sagte mir Kurt Marti im Sommer, als er das Programm zur ihm gewidmeten Tagung «Grenzverkehr» erhalten hatte. Es war ihm physisch nicht mehr möglich, selber an dieser teilzunehmen. Und es war ihm, dem Zweiundneunzigjährigen, auch ein bisschen unangenehm zu erfahren, dass er da während zweier Tage im Zentrum der Aufmerksamkeit eines grösseren Fach- und öffentlichen Publikums stehen würde.

Der keinen Lärm macht und keine Ruhe gibt

Organisiert und eingeladen hatte das Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR) der Theologischen Fakultät Zürich, an dem bereits seit Jahren über das Verhältnis von Theologie und Literatur nachgedacht wird. So untrennbar und produktiv verbunden wie im Werk von Kurt Marti sind Theologie und Literatur aber selten. Der theologische Marti ist nicht ohne den lyrischen, der wortschöpferische nicht ohne den politischen zu haben.

Im Eingangsreferat würdigte Manfred Papst, Ressortleiter Kultur bei der «NZZ am Sonntag», Marti als einen Schriftsteller, «der keinen Lärm macht, aber auch keine Ruhe gibt». Er sei ein Grüner gewesen, bevor es den Begriff und die Partei gab. Als Pfarrer und Theologe sei Marti immer wieder Anfeindungen ausgesetzt gewesen, beispielsweise wenn er öffentlich erklärt habe, er glaube nicht an die Unsterblichkeit des Einzelnen und erhoffe für sich persönlich auch keine solche. Die Auffassung, Ewigkeit ereigne sich bereits im Hier und Jetzt, verbinde ihn mit dem mittelalterlichen Meister Eckhart. Martis Anliegen sei es, wie es in einem seiner Gedichte heisse, «den Himmel auf Erden anzuzetteln».

In der Würdigung von Martis schriftstellerischem Werk hob Manfred Papst den 2010 erschienenen Band «Notizen und Details» hervor. Das voluminöse Buch versammelt Essays aus der Zeitschrift «Reformatio», erschienen in einem Zeitraum von über vierzig Jahren. Trotz des grossen Erfolgs sei die Bedeutung dieses Werks noch nicht annähernd erkannt worden: «Es gibt», so Papst, «meines Wissens nichts Vergleichbares in der Schweizer Literatur».

Ein religiöser Lyriker?

Dieter Lamping, Germanist und Komparatist aus Mainz, hob Martis Rolle als Erneuerer der religiösen Lyrik hervor. Er sei das Ende der alten religiösen Lyrik und zugleich der Anfang einer neuen gewesen. Ohne ihn würde es heute kaum eine religiöse Lyrik geben, die auch als pointiert zeitgenössische Bestand hätte. Das Referat löste die unmittelbare Frage aus, ob denn Lyrik von einem bekennenden Christen und Pfarrer zwingend als «religiöse Lyrik» bezeichnet werden müsse.

Ralph Kunz, evangelischer Theologe und Ordinarius für Praktische Theologie an der Uni Zürich, wies auf Kurt Martis Verdienste für die Homiletik (Predigtlehre) hin, gerade weil Marti der entsprechende Lehrstuhl an der Uni Bern in den Siebzigerjahren aus politischen Gründen verweigert worden war (der Vorgang wird im Tagebuch «Zum Beispiel: Bern 1972» geschildert). Marti habe an der Predigt «gelitten», wie einer Episode im Erinnerungsbuch «Ein Topf voll Zeit» (2008) zu entnehmen sei. Dieses Leiden sei später lyrisch produktiv geworden, beispielsweise im Bestseller «leichenreden» (1969), einem fulminanten poetischen Plädoyer für die Verabschiedung falscher Abdankungsrhetorik.

Zärtlichkeit und Schmerz

Auf Kurt Martis «Notizen» ging Magnus Wieland vom Schweizerischen Literaturarchiv ein. Allerdings könne er, Wieland, nicht von unveröffentlichen Notizen im Vorlass erzählen: Martis Archiv bestehe hauptsächlich aus Korrespondenz und Resonanzen auf das Werk; Vorstufen und Entwürfe zu einzelnen Texten existierten nicht, sie seien konsequent dem Papierkorb übergeben worden. Im Zentrum der Ausführungen standen denn die «Notizen» des Bandes «Zärtlichkeit und Schmerz» (1979) – einem fein gesponnenen Netzwerk von sprachkritischen, gesellschaftskritischen und theologischen Aufzeichnungen. Wielands Fazit: «Zur Zärtlichkeit im Sinne Martis gehört die Kunst, Notiz zu nehmen.»

Das Schlussreferat hielt Stefanie Leuenberger, Germanistin an der ETH Zürich. Sie würdigte das traumhaft-assoziative Buch «Die Riesin» (1975) – Martis einzigen Roman –, das nach Manfred Papst nicht zu den Hauptwerken gezählt werden sollte (diese bildeten die Lyrik und die Essays). Mit ihren Ausführungen zeigte Leuenberger, die Martis Texten Ende der Achtzigerjahre im Gymer nicht mehr begegnet war, worin die Faszination Martis für die Nachgeborenen liegt: Er ist ein Pionier der «modern mundart» und Konkreten Poesie; einer der ersten Grünen, Mitbegründer der «Erklärung von Bern» und eine Reizfigur im Kalten Krieg; er ist ein massgeblicher Erneuerer der religiösen Lyrik und Befrager des Wortes – und nicht zuletzt ein Erzähler der politischen und Kulturgeschichte des vergangenen Jahrhunderts.

Die Tagung «Grenzverkehr» fand am 22. und 23. November 2013 an der Theologischen Fakultät Zürich statt. Sie wurde von Pierre Bühler und Andreas Mauz vom Institut für Hemeneutik und Religionsphilosophie veranstaltet. Eine Publikation mit den Vorträgen und weiteren Beiträgen zum Werk Martis ist in Planung.