Dem Phänomen Kurt Marti auf der Spur

von Rita Jost 27. November 2020

Ein Marti-Spaziergang, ein Chorprojekt, ein Marti-Festgottesdienst und drei Neuerscheinungen mit Texten von und zu Kurt Marti: Bern ehrt seinen grossen Lyriker und Pfarrer gerade vielfältig. Ende Januar wäre er 100jährig geworden.

«Kurt Marti – Sprachkünstler, Pfarrer, Freund» ist die Textsammlung überschrieben, die sein Nachfolger an der Nydeggkirche, Pfarrer Klaus Bäumlin, herausgibt. Es ist unter den Neuerscheinungen zu Marti wahrscheinlich die Publikation, die für Nichttheologinnen am besten erklärt, was den Theologen so aussergewöhnlich machte. Auf 160 Seiten erzählen Freunde, Nachbarn, Berufskollegen und sein Verleger sehr persönlich, was ihnen Marti bedeutet hat, was sie an dem Menschen und Theologen fasziniert und begeistert, und warum er heute noch zu den bedeutendsten Figuren des politischen Lebens in der Schweiz des 20. Jahrhunderts zählt. Und dies obwohl Marti auf viele (auch auf mich, seine langjährige Nachbarin!) oft nicht gerade zugänglich, ja sogar eher spröd und weltabgewandt wirkte.

Der doppelte Marti

Dieses Phänomen – der empfindsame, wortgewandte, unerreicht klar formulierende Lyriker, der anderseits so traditionell und nicht eben leicht verständlich predigte – dieses Phänomen versuchen in der Textsammlung von Klaus Bäumlin zehn Weggenossen zu ergründen. Marti habe wohl oft Predigtbesucher enttäuscht, die von weither in die Nydeggkirche pilgerten, weil sie in der Kirche ein poetisches Kunstwerk erwarteten, vermutet Klaus Bäumlin, denn Marti habe als Prediger nicht mit ungewöhnlichen Formen oder Formulierungen aufgewartet, sondern durch den Inhalt überzeugt. Seine Bibelauslegungen waren eher traditionell, analytisch und sehr elaboriert (aber für Laien oft auch extrem anspruchsvoll, wie man bei der Lektüre der anderen TVZ-Neuerscheinung «Gottesbefragung – Ausgewählte Predigten» feststellen kann). Aber Bäumlin sieht gerade in dieser Tatsache die Qualität von Marti, sowohl als Lyriker wie als Theologe. Marti habe eine Doppelexistenz geführt, er habe sowohl «draussen» wie «drinnen» gelebt, er habe die Freiheit und Unabhängigkeit des Dichters genauso gespürt wie die Verantwortung und Verpflichtung des Theologen.

 

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An dieser Stelle verweist Bäumlin auf Aufsätze von Marti selber zu diesem Doppelleben. Und diese sind tatsächlich sehr erhellend und dürften wohl für viele überraschend sein.  «Der Lyriker versucht, sein eigenes Wort, der Prediger versucht Gottes Wort zu artikulieren», erklärt Marti seine Doppelexistenz. Der Lyriker versuche, seine eigene Identität zu finden, der Prediger glaubt, seine Identität nur «in Jesus Christus» zu finden.

Bewundert und verehrt

Das sind Gedankengänge, die vielleicht nicht allen auf Anhieb leicht zugänglich sind. Deshalb zurück ins Buch «Kurt Marti – Sprachkünstler, Pfarrer, Freund». Da wird auch der andere Marti beschrieben. Da schreibt zum Beispiel Joy Matter, die ehemalige Stadtberner Gemeinderätin und Witwe von Liedermacher Mani Matter, über Marti, den geselligen Gesprächspartner beim samstäglichen Märitkaffee, den greisen und zunehmend altersmüden Marti auch, der nichtsdestotrotz bis fast zuletzt seine Freunde mit geistreichen Reimereien überraschte. Und Franz Hohler erzählt von seinen eigenen Anfängen auf der Bühne und vom Ermutiger und Ernstnehmer Kurt Marti, der den jüngeren Dialektautor aus Olten mit seinem träfen Berndeutsch beeindruckte. Da schildern aber auch Guy Krneta, Conradin Conzetti, Fredi Lerch und sein Stuttgarter Verleger Wolfgang Erk Begegnungen mit dem Menschen Marti, der als Freund, Diskussionspartner oder geistreicher Nachbar gleichzeitig feinfühlig und unnahbar sein konnte, der ein gutes Essen, aber auch ein spannendes Fussballspiel am Fernsehen schätzte.

Aus all diesen Texten spricht tiefe Hochachtung, ja Verehrung für den Sprachkünstler, der einem grösseren Kreis von Lesenden im Land nicht als politischer Theologe, sondern als genialer Autor bekannt ist. Er konnte in knappster Sprache einfangen, wofür andere ganze Essays brauchen. Bei nicht wenigen seiner Weggefährten tönt aber auch immer wieder Verwunderung auf: Warum hat Marti, der ein derart begnadeter Vereinfacher war, nicht in ähnlichem Stil gepredigt. Die Antwort findet sich in seinem Text «Wie entsteht eine Predigt? Wie entsteht ein Gedicht?» Im Buch Gottesbefragung. Aber Achtung: das ist kein kurzer Text, Marti erklärt es auf 22 Seiten! Lesenswert ist die Erklärung allemal. Und genauso genial wie seine bekannte Hommage à Rabelais. «d’schöni vo de wüeschte wörter isch e brunne i dr wüeschti vo de schöne wörter». Beides können, verdichten und ausbreiten (auslegen, wie es theologisch heisst), das konnte Kurt Marti. Das machte ihn aus.