Dekonstruktion und Rekonstruktion

von Christoph Reichenau 4. November 2019

Gibt es ein berühmteres Ballett als «Schwanensee» mit der Musik von Pjotr I. Tschaikowsky? Die Tanzcompagnie Konzert Theater Bern nimmt sich des Werks an, wirft frische Blicke auf das Bekannte und präsentiert es schliesslich neu. Ein toller Abend in drei Teilen. Und einer Zugabe.

Kurz vor dem Ende des Films steht Billy Elliot, aus der englischen Arbeiterklasse stammend, jetzt geschminkt und im Kostüm bereit. Die Musik brandet auf und mit einem Sprung gliedert er sich ein in das Corps der Schwäne. In sein neues Leben. In den Tanz. In den Tanz.

Schwanensee. Es braucht nur Momente, um sich erfassen zu lassen vom Zauber dieses Balletts, das 1876 im zaristischen Russland Première hatte und dank der Geschichte der Schwäne und Tschaikowskys ebenso zärtlicher wie machtvoller Musik den Bühnentanz verwandelte.

Drei Schritte geht die Tanzcompagnie von Konzert Theater Bern mit dem Berner Symphonieorchester, um «Schwanensee» zu dekonstruieren, neu zu verstehen und schliesslich aus einer möglichen Sicht von heute neu darzubieten. Die Schritte heissen «Der unerwartete Gast» (Jo Stromgren), «The Sign of the Swan» (Estefania Miranda) und «0 / 0» (Ihsan Rustem).

Wer wegen Tschaikowsy kam, musste sich lange gedulden. Es war Musik von Bergmund Skaslien (gespielt vom BSO), Arvo Pärt und Jorg Schellekens (ab Band), die die ersten zwei Schritte untermalten, weit weg von den vertrauten Klängen des Russen. Die einnehmende Fremdheit dieser Kompositionen machten die Ohren und Augen frei für eine neue Erkundung.

Der unerwartete Gast

Jo Stromgrens Stück «Der unerwartete Gast» führt uns in eine lange Halle mit Personen in gespannter Erwartung. Durch eine Fensterfront erkennt man die Ankunft des Postwagens. Er bringt in Holzkisten Schwäne; sie werden routiniert vermessen und weggebracht. Bis in der vierten Kiste ein schwarzer Schwan liegt. Ein anderer, ein fremder Schwan. Er bringt die Ordnung durcheinander, ändert alles. Schmerz, Gewalt, orgiastische Szenen, friedfertige Momente wechseln sich ab, bald dominiert Weiss, bald Schwarz. Die Atmosphäre changiert von warm zu kühl, von hell zu dunkel. Die Vielfalt der Konstellationen wird gesteigert dadurch, dass sich das Geschehen bald im Innern des Raums abspielt, bald ausserhalb, lediglich durch die Fenster zu erkennen. Am Schluss bilden Schwarz und Weiss – beide Farben werden von je einer Tanzgruppe verkörpert – zwei Pole einer Diagonale.

Falls die Choreografie eine Geschichte erzählte, kann ich sie nicht vollständig entschlüsseln. Das ist vielleicht auch nicht nötig. Die Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich so expressiv, lassen unseren Gedanken Raum, zwingen sie nicht in einen linearen Ablauf. Gedankenfetzen genügen, um zu «verstehen». Assoziationen tauchen auf. Auf Unerwartetes reagieren wir unterschiedlich. Zwischen Schwarz und Weiss kennen wir vielerlei Grautöne, sanfte und harte. Wie wir uns darin orientieren, ist die Frage, wieviel Unbestimmtes, Offenes, nie ganz Festgelegtes wir ertragen und akzeptieren. Die Bewegungen, Figuren, Muster der Tanzenden muten uns einiges zu, öffnen Gedanken und Möglichkeiten. Bergmund Skasliens Musik schafft Raum für das Nachdenken.

Und Jo Stromgrens Bühnenbild steigert unsere Zuschauer-Phantasie durch die Teilung von Vorder- und Hintergrund, von drinnen und draussen, von gewohnter, fast behaglicher Stimmung einerseits und jähen Wechseln ins Magische oder Bedrohliche. Dass am Schluss ein fliegender weisser Schwan vor den Fenstern vorbeigezogen wird: Ein starkes Bild, das auf viele Arten gedeutet werden kann.   

The Sign of the Swan

In völlig anderem Raum beginnt Estefania Mirandas Stück. In einer technisch anmutenden Kiste, von oben beleuchtet, kauert ein Schwan (Mahélys Beautes/Livona Ellis) mit einem einzigen Flügel, versucht sich zu erheben, taumelt, sinkt zusammen, probiert es erneut, bis er – den Flügel abgestreift – der Kiste entrinnt. Und nun, flügellos, Frau wird. Die prachtvoll glänzende schwarze Schwinge ist weg, das Schwarze bleibt. Der schwarze Schwan hat sich selbst vom Zauberbann befreit. «Vogelfrei», so ungebunden wie gefährdet – das Wort taucht mir plötzlich auf. Ein versehrter und gezeichneter Mensch, wenn man in Hautfarben denke. Ein befreiter, schöner Mensch ohne derartiges Denkschema. Zu neuen Leben erweckt durch den Tanz, die Begegnung mit Tänzern, die Faunen gleichen; gemeinsame Figuren, Vereinzelung, Verbindung zweier schwarzer Tänzerinnen zu einem neuen Ganzen. Einfach schön.

Die zwei Tänzerinnen und die beiden Tänzer (Winston Ricardo Arnon und Yacnoy Abreu Alfonso) sind alle von dunkler Hautfarbe. Ein starkes Zeichen von Estefania Miranda gegen Vorurteile und Ideologien. Erleichternd, das «Auferstehen» des gefangenen Schwans als Frau mitzuerleben, nachdem der Flügel beseitigt ist. Es ginge wohl zu weit, diesen Flügel in Beziehung zu bringen mit jenem militanten Teil der AfD, doch auch dies ergäbe Sinn.

Es sind faszinierende Körperlichkeiten, die manchmal aus dem Dunkel in der Tiefe der Bühne auftreten, in seltenen Momenten auf den Fussspitzen. Schwer zu sagen, ob der Spitzentanz, für Viele der künstlerische Höhepunkt des klassischen Bühnentanzes, für andere dessen Perversion, hier ironisch zitiert oder als eine von vielen Möglichkeiten der Bewegungskunst von Frauen dargestellt wird. Im Stück fällt er in seiner Fremdheit jedenfalls auf.

Die Musik ab Band verbindet sich mit dem Tanz, dem Licht, dem Bühnenraum unterschiedlich. Während Jorg Schellekens Songs die getanzte Erzählung erweitern, bietet Arvo Pärts Komposition eine solide Grundlage dafür, einen stampfenden Sound. Die Wiedergabe ist an manchen Stellen unrein; eine Frage der Technik.

0 / 0

Und jetzt im Halbdunkel vor einer geheimnisvollen Mondscheibe endlich Tschaikowsky. Eine Wucht. Zwei Tänzer, schwarz (Toshitaka Nakamura) und weiss (Andrey Alves), ein grosses Corps de ballet in grauen Overalls, sanfte, aber auch heftige Bewegungen im Kollektiv zu dieser überwältigenden Musik in einer weiten Skala von zärtlich-schmelzend zu militärischer Grandiosität. Der mann-männliche Pas de deux, die an Abu Ghraib gemahnende Szene mit der roten Kapuze – es ist nicht die Geschichte vom «Schwanensee», doch es ist Schwanensee als grosses, wenn auch kurzes Ballett zu Tschaikowskys Musik, die herrschaftlich, schmiegsam, auftrumpfend, in feinste Töne zersplittert ist und in Bann schlägt. Das BSO unter der Leitung von Thomas Rösner bringt diese herrliche Musik so kraftvoll wie zart dar.

Eine wundersame Interpretation des Balletts aus unserer Zeit für uns. Zum Ende senkt sich der Himmel, aus dem stetig Tropfen fielen, bis fast auf den Bühnenboden und lässt starken Regen ausströmen, unter dem der schwarze Schwan sich streckt und reckt und dabei sein Element wiederfindet, in dem er mit dem weissen weiterleben wird, als Schwan, als Mensch, in beider Gestalt und Kraft.

Eine Zugabe

Während das Publikum klatscht, stampft und vor Freude und Bewunderung fast ein bisschen tobt, während auf der Bühne alle Schwäne, die Choreograf*innen, der Dirigent (und mit ihm auch das Orchester), die Bühnen- und Kostümbildner verdient gefeiert werden, sinkt der Vorhang wieder. Und hebt sich einen gefühlten Wimpernschlag danach zu einer Zugabe, die witziger, verspielter, feinsinniger und auch lustiger nicht sein könnte. Doch die darf man nicht verraten, wenn man nicht Spielverderber sein will.

Zum ganzen ersten Tanzabend der Compagnie von KTB darf man sagen: Es ist eine Performance ersten Ranges, intellektuell, tänzerisch, musikalisch. Der Abend zeigt eine Verbeugung des zeitgenössischen Tanzes vor dem klassischen Ballett und dessen bekanntestem Werk. Der Abend mutet den Zuschauer*innen einiges zu, lässt sie am Anfang im Ungewissen, ja fast allein, und entwickelt sich zu einem fulminanten Steigerungslauf. Und am Ende, wenn man alles miterlebt hat und wieder durchschnauft, erkennt man die Absicht und versteht den Sinn.