Das «Zehendi» zwischen Gastro und Landwirtschaft

von Fabio Kunz 3. November 2021

Seit April führt das Unternehmen «Wagen zum Glück» von Anna und Simon Tauber das Zehendermätteli. Nach einem corona- und wetterbedingt schwierigen Start öffnet am 3. November 2021 die Gaststube des Zehendermätteli erstmals für die Wintersaison.

Ein wunderschöner Freitagnachmittag. Die Sonne scheint, die Bäume auf dem Zehendermätteli-Areal tragen Herbstfarben. Ich sitze mit Simon Tauber, einem der Geschäftsführer, im Garten des Zehendermätteli an einem Tisch. Er blickt zurück auf die ersten Monate nach der offiziellen Neueröffnung. «Es war ein steiler Start», erzählt Simon, «wir haben im Januar mit einer riesigen Baustelle angefangen und mussten in einem Zelt eine provisorische Küche aufbauen, um dann am 1. April loslegen zu können.» Die Pandemie habe das Ganze noch zusätzlich erschwert. Zwar konnten sie sowieso nur draussen Plätze anbieten, aber sie hätten nicht genau gewusst wie viele Leute sie anstellen können. Zusätzlich spielte auch das Wetter nicht mit. Und zu allem Überfluss war das Zehendermätteli im Juli noch von einem Hochwasser betroffen und musste den Betrieb für eine Woche einstellen, damit die Schäden behoben werden konnten. Dafür wurden sie anschliessend überrannt: «Ab Mitte Juli bis Ende August waren wir jeden Tag komplett ausgebucht, insgesamt haben wir in dieser Zeit zwischen 150 bis 180 Abendessen verkauft», berichtet Simon.

Am Anfang stand das soziale Engagement

Es war also ein herausfordernder Start am neuen Ort für Anna und Simon. Doch wer sind die neuen Pächter des Zehendermätteli überhaupt? Die gastronomische Laufbahn der beiden begann mit dem Imbisswagen «Wagen zum Glück». Die Idee dazu kam Simon, dem gelernten Landschaftsgärtner und Arbeitsagogen, im Zuge der Flüchtlingskrise. Damals war er in einem Kollektiv tätig, welches beim Stufenbau in Ittigen ein Atelier mit Bar und einer kleinen Bühne führte. 2015 ging in unmittelbarer Nähe eine neue Flüchtlingsunterkunft auf, und das Kollektiv entschied sich, ein Angebot für Geflüchtete auf die Beine zu stellen. So haben sie unter anderem Deutschunterricht in mehreren Klassen angeboten.

Simon begann zu überlegen, wie man diese Menschen in den Arbeitsalltag integrieren könnte und er hatte die Idee für das mobile Gastroangebot. «Wir haben ein Crowdfunding gestartet und mit dem Geld den ‘Wagen zum Glück’, mit kleiner Küche und Bar, gebaut.» Daraufhin konnten sie Bewohner*innen der Notunterkunft in Ittigen anstellen. «Die Geflüchteten haben mittlerweile eine Ausbildung begonnen oder sogar schon abgeschlossen», erklärt Simon, «sie sind vom Sozialdienst losgelöst und finanziell unabhängig geworden.» Genau das sei ihr Anliegen als Unternehmer. «Wir wollen soziale Verantwortung wahrnehmen, sozialer Ausgrenzung entgegenwirken und aufzeigen, dass es möglich ist, Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in ein Unternehmen zu integrieren.»

Simon Tauber führt zusammen mit Anna Tauber das Zehendermätteli. (Foto: Fabio Kunz)

 

Vom Imbisswagen zum Grossbetrieb

Ab 2018 war der «Wagen zum Glück» an verschiedenen Standorten, im Sommer jeweils an der Aareschlaufe in Worblaufen, anzutreffen. Ein kleiner Betrieb im Vergleich zum Zehndermätteli mit Restaurant, einem Umschwung von vier Hektaren Land und mehreren Gewächshäusern. Wie kam es dazu, dass Anna und Simon das Zehendermätteli übernahmen? «Ich wurde von Stammkunden des ‘Wagen zum Glück’ auf die Ausschreibung der Burgergemeinde aufmerksam gemacht», erzählt Simon. Anfangs habe er aber jeweils abgewinkt. «Ich dachte, das Zehendermätteli sei eine Nummer zu gross», sagt er. Doch die Stammgäste hätten ihn immer wieder ermutigt. «Ich kam zum Schluss, dass unser Konzept es verdient, gehört zu werden». Also bewarben sie sich und setzten sich gegen insgesamt 19 Mitstreiter*innen durch. Am 22.06.2020 gab die Burgergemeinde in einer Medienmitteilung bekannt, dass Anna und Simon ab 2021 die neuen Pächter werden würden.

Soziale Integration im Zentrum

Das soziale Engagement steht auch an der neuen Wirkungsstätte im Zentrum. So arbeiten die Geflüchteten, welche von Anfang an beim «Wagen zum Glück» dabei waren, heute auch im Zehendermätteli mit. Zusätzlich arbeiten Menschen mit einer Suchtvergangenheit oder mit psychischen Erkrankungen in der Gastronomie, in der Landwirtschaft und in der Gärtnerei. Insgesamt seien dreissig Leute angestellt. Doch nicht nur Integration, auch Partizipation ist ein wichtiger Bestandteil der Vision von Anna und Simon. «Das Zehendi ist für viele Bernerinnen und Berner ein sehr emotionaler Ort», so Simon. Deshalb wollten sie die Leute am Aufbau des Betriebs mithelfen lassen.

Dazu kann man sich auf der Website des Zehendermättelis anmelden. Einmal im Monat gibt es einen Newsletter, der die neuen Entwicklungen des Unternehmens vorstellt. Zusätzlich lädt das Zehendermätteli-Team zweimal pro Monat an einen «Mitmach-Event» ein, bei welchem alle vor Ort mithelfen können. «Das ist etwas, das mich sehr begeistert, da es generationenübergreifend ist», schwärmt Simon. Regelmässig würden Leute in einen Dialog kommen, die sich sonst wohl nie begegnet wären. «Die Leute machen hier etwas Sinnvolles und können sich so mit dem Ort identifizieren».

Damit hat alles angefangen: Der «Wagen zum Glück» (Foto: Fabio Kunz)

Das Ökosystem Zehndermätteli

Neben den Menschen ist auch das Ökosystem zentral. Das Areal wird nach den Prinzipien der Kreislauf-Landwirtschaft kultiviert, so dass die Artenvielfalt und Biodiversität gefördert wird. Auf den Gemüsefeldern werden keine Maschinen zur Bewirtschaftung eingesetzt. So wird der Boden nicht verdichtet. Um Schädlingen entgegenzuwirken, werden konsequent Mischkulturen angepflanzt, auch Tiere kommen zum Einsatz. So sollen Laufenten die Schnecken fressen, welche sonst Salat und Gemüse anfressen würden. Gerade wird ein Hühnerstall fertig gebaut und im Sommer sollen Schafe auf einer Wiese grasen. Der Mist der Hühner und die Wolle der Schafe werden zur Düngung der Pflanzen verwendet.

Das ist aber noch nicht alles. Auf dem Gelände entsteht zusätzlich ein essbarer Waldgarten, in welchem alle Pflanzen essbar sind. In diesem Wald soll auch eine eigene Quelle ausgehoben werden. Laut Simon werde sich in Zukunft durch das ganze Areal ein offenes Kanalsystem erstrecken: «Dadurch wird die Artenvielfalt gefördert, da Lebensraum für Kleinstlebewesen geschaffen wird.» Zusätzlich können die Schafe das Wasser trinken und die Pflanzen werden damit gegossen.

Das Gemüsefeld und zwei der Gewächshäuser auf dem Zehendermätteli-Areal (Foto: Fabio Kunz)

 

Das gastronomische Konzept sei auf diesem komplexen Ökosystem aufgebaut: «Wir wollen unseren Gästen ehrliche slow-food-Küche verkaufen». In Zukunft sollen alles Gemüse und Obst, sowie alle Kräuter aus eigener Produktion stammen. Auch die Kultur soll nicht zu kurz kommen. Ein- bis zweimal im Monat findet im Zehendermätteli eine kulturelle Veranstaltung statt. «Alles hier ist miteinander vernetzt», fasst Simon die komplexen Wechselwirkungen zusammen. «Wir wollen ein vielseitiges, unternehmerisches Ökosystem der Wechselwirkung zwischen Gastronomie, Landwirtschaft, Kultur und Sozialem an diesem Ort schaffen.»

Neu auch im Winter geöffnet

Mit der Eröffnung der Gaststube am 3. November, welche Platz für ungefähr 24 Gäste bietet, beginnt im Zehendermätteli ein neues Zeitalter. Erstmals ist das Restaurant von Oktober bis März durchgehend geöffnet. Auch wenn die Fähre, welche zwischen Bremgarten und dem Zehendermätteli-Areal hin- und herfährt, in den Wintermonaten nicht verkehrt. «Wir wollen ein konstantes, familiäres Team sein und nicht jede Saison neue Leute anstellen müssen», erklärt Simon den Entscheid. Die erschwerte Zugänglichkeit im Winter sieht er als «Challenge». Zurzeit seien sie daran, ein Shuttle-Bus-Konzept zu erarbeiten. Ebenfalls stünden etwa fünf Minuten vom Restaurant entfernt 30 bis 40 Parkplätze zur Verfügung. Oder wer Lust habe, könne auch einfach von der Tiefenau aus den ungefähr 20-minütigen Spaziergang durch den Wald in Angriff nehmen.

Tradition und Moderne

Damit auch im Winter zahlreiche Gäste ins Restaurant kommen, hat sich das Zehendermätteli-Team ein spezielles Konzept ausgedacht. Dieses legt zwei ziemlich verschiedene Schwerpunkte. Einerseits wird Raclette und Fondue in sieben verschiedenen Wohnwagen angeboten. Simon: «Jeder Wohnwagen wurde zu einem bestimmten Thema oder im Stil einer Zeitepoche ausgebaut, möbliert und dekoriert» Die Grösse der verschiedenen Wohnwagen variiere sehr stark. So habe der kleinste Wohnwagen, «Ruedi», der im 70er Jahre Stil daherkommt, sechs Plätze, der grösste, der an eine Skihütte erinnert, 16 Plätze. Der zweite Teil des Winterkonzepts ist das Neun-Gänge-Menü, welches ungefähr alle zwei Monate angepasst werde. Das Menü zum Auftakt, steht unter dem Motto «Wilde Farben». «Unser Chefkoch Beni hat zu diesem Thema einen kreativen Neungänger kreiert», erklärt Simon. Das Ziel sei gewesen, die Farbenpracht der Umgebung auf das Teller zu bringen, deshalb komme jeder Gang in einer anderen Farbe daher. Noch scheint sich nicht überall rumgesprochen zu haben, dass das Zehendermätteli neu auch im Winter geöffnet hat. Aber die letzten Vorbereitungen laufen, ehe am 3. November im Zehendermätteli ein neues Zeitalter anbricht.

Ein Teil des Winterkonzepts: Die umgebauten Wohnwagen, in welchen Fondue und Raclette serviert wird (Foto: Fabio Kunz)