Das Wunder vom 9. November 1989

von Rahel Schaad 24. Januar 2021

Am 9. November öffnete die DDR ihre Grenzen nach Westdeutschland. Andrea Huwyler lebte damals in Leipzig und erzählte uns von ihrer ersten Reise in den Westen und von ihren Erinnerungen an die Zeit vor und nach dem Mauerfall.

«Nach meiner Kenntnis ist das … sofort, unverzüglich», waren die Worte, mit denen Günther Schabowski am 9. November 1989 ungewollt die Grenzöffnung der DDR einleitete. Auf der Pressekonferenz hätte der Sprecher des Politbüros die neuen Reiseregelungen in der DDR verkünden sollen. Neu hätten Urlaubsreisen und längerfristiges Ausreisen in den Westen ab dem Folgetag und auf Antrag ermöglicht werden sollen. Schlecht vorbereitet antwortete Schabowski aber auf die Nachfrage von Journalist*innen, dass die Regelung seiner Kenntnis nach ab sofort in Kraft trete. Nur wenige Minuten später titelten die Nachrichtenagenturen «DDR öffnet Grenzen». Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

In Berlin strömten nach der Nachricht der offenen Grenzen Tausende aus Ost und West zur Mauer. Die Grenzposten, welche aufgrund der verfrühten Bekanntgabe noch gar keine entsprechenden Anweisungen über den Ablauf hatten, waren mit den Menschenmassen überfordert. Eine halbe Stunde vor Mitternacht gaben die Beamt*innen dem Druck des Ansturms nach, liessen die Kontrollen weg und öffneten die Grenzen. Unter lautem Jubel rannten Tausende über die Brücke, überkletterten Mauern und wurden auf der anderen Seite begeistert begrüsst.

 

Die erste Reise in den Westen

Es war an einem Donnerstagabend bei der Chorprobe in der Leipziger Pfarrei Trinitatis, als mittendrin die Tür aufflog und der Probst mit Sektflaschen und Gläsern hereinstürzte und verkündete: «Schluss mit der Probe, die Grenze ist offen! Leute, es wird gefeiert!» Andrea, damals vierundzwanzig, und die anderen Sänger*innen schauten den Probst und einander ungläubig an, dann wurde angestossen. Zuhause rief Andrea sofort ihre Tante im Westen an. Ob das stimme mit den offenen Grenzen? Und ob sie vorbeikommen dürfe?

 

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Eine Woche nach dem Mauerfall reiste Andrea in der Freitagnacht nach Bremen. Im Bahnhof Leipzig waren die Gleise, an denen ein Zug in den Westen fuhr, proppenvoll. Aber alle hätten ganz ruhig und diszipliniert in drei parallelen Reihen hintereinander gewartet. Und auch als der Zug einfuhr, habe es kein Drängen und Drücken gegeben, berichtet Andrea. «Es ist mir bis heute ein Rätsel wie das damals so gesittet ablaufen konnte. Irgendwie war einfach klar, dass alle in den Zug wollten und so hat man sich arrangiert.»

Die Kinder hätten oben in den Gepäcknetzen gelegen. Andrea selbst fand auf dem Tischchen in der Mitte eines Abteils Platz. Auf beiden Seiten des Abteils sassen je fünf Leute und auf dem Boden auch noch welche. In den Gängen habe es ähnlich ausgesehen. «Es war irre.» Wer aufs Klo musste, sei wie in einem Zahnradgetriebe durch die Leute gerollt worden. Selbst die WC-Tür konnte man nicht schliessen, weil da noch jemand stand. Der Mann im Türrahmen habe jeweils ein bisschen Platz gemacht, damit man sich hinhocken konnte. «Alle hätten einem theoretisch durch den Spiegel dabei zusehen können. Aber für Scham war kein Platz mehr, es war einfach so.»

 

Parfümgeruch und Mangos

Die BRD versprach allen Einreisenden aus der DDR ein Begrüssungsgeld von hundert DM. Für Andrea war das nebensächlich. Sie wollte ihre Tante besuchen und das Gefühl von Freiheit spüren. Während sie nachts in Hannover auf ihren nächsten Zug warten musste, trat sie aus dem Bahnhof und schaute sich um. Dabei sei ihr als erstes der Geruch aufgefallen. «Bei uns roch es ja immer nach Asche und schlechter Luft. Aber da duftete auf einmal alles parfümiert und vermischte sich mit dem Geruch der Bäckereien, die bereits mit der Produktion begonnen hatten. Es duftete so fein!» Sie kam an farbenfrohen Wendeplakaten vorbei, die auf der einen Seite Zigaretten- auf der anderen Seite Alkoholwerbung zeigten. Während sie diese betrachtete, kamen ihr die Tränen. «Da musste ich weinen. Ich war einfach glücklich.»

Am Sonntagabend war Andrea bereits wieder zurück in Leipzig und am Montagmorgen assen alle zusammen im Büro ihre mitgebrachten Mangos. Bis zum nächsten Sommer fuhr sie noch vier weitere Male nach Westdeutschland. «Immer, wenn jemand aus dem Westen zurückgekehrt ist, wurde Mitgebrachtes an Kollegen und Nachbarn verteilt.»

 

Der Sommer davor – verlassen und hoffnungslos

Die Grenzöffnung vom 9. November kam zwar überraschend schnell, doch schliesslich war sie eine Konsequenz aus den vorangegangenen Entwicklungen in der DDR. Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich zusehends und im Sommer 1989 verliessen Tausende DDR-Bürger*innen das Land, entweder auf Antrag oder durch Flucht. Andrea erinnert sich daran, dass im Sommer 1989 auf der Arbeit und in der Nachbarschaft fast täglich jemand Anderes fehlte. Und eines Tages auch Andreas beste Freundin. Deren Familie besuchte in den Sommerferien die Grossmutter im Westen – neuerdings durfte man, wenn enge Familienmitglieder einen runden Geburtstag feierten auf Antrag in den Westen reisen – und kehrte nicht zurück. Als Andrea nach ein paar Tagen zur Wohnung der Freundin ging, fand sie dort alles verplombt vor und wusste Bescheid. «Für mich war das ganz schlimm. Sie war eine meiner engsten Bezugspersonen seit dem fünften Lebensjahr. Und dann war sie einfach weg.»

Das Ereignis reihte sich in die damalige düstere Stimmung ein, erinnert sich Andrea. In diesem Jahr vor dem Mauerfall habe man richtig gespürt, wie alles bergab gegangen sei. Im Juni wurde in Leipzig das jährliche Strassenmusikfestival kurzfristig abgesagt. Daraufhin organisierten Oppositionsgruppen ein eigenes, um ein Zeichen für die Freiheit der Kunst zu setzen. Doch die Veranstaltung wurde es von der Volkspolizei gewaltsam aufgelöst, viele Musiker*innen und Zuhörende wurden festgenommen und in Lkws abtransportiert. Gleichzeitig blieben immer mehr Leute im Westen. «Zu der Zeit fühlte man sich einfach allein und verlassen.» Und dann kam auch noch die Meldung über das Tian’anmen-Massaker in China. Umso schlimmer sei dieses Ereignis gewesen, weil Russland nicht eingegriffen habe. «Bis dahin lag unsere Hoffnung auf Gorbatschow. Wir wollten Glasnost wie in der Sowjetunion», so Andrea. Aber nach diesem Vorfall sei klar geworden, dass auch Gorbatschow sie nicht retten werde.

 

Widerstand

Bereits seit 1982 trafen sich in der Leipziger Nikolaikirche jeden Montag Menschen, zumeist Ausreisewillige, zu Friedensgebeten. In Folge der zunehmenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung kam es am 4. September 1989 zur ersten kleineren Montagsdemonstration in Leipzig. Im Anschluss an das Gebet am 4. September 1989 entrollten sie auf dem Vorplatz der Kirche Transparente, darauf stand «Für ein offenes Land mit freien Menschen» und «Reisefreiheit statt Massenflucht». Von da an versammelten sich wöchentlich immer mehr Menschen, um für die Reformierung der DDR, für Freiheit und Bürger*innenrechte zu demonstrieren.

Anfangs gingen die Sicherheitsleute harsch gegen die Demonstrierenden vor. Bereits an der zweiten Montagsdemonstration wurden zahlreiche Menschen in Leipzig festgenommen. Trotzdem entwickelte sich die Nikolaikirche im Herbst 1989 zu einem zentralen Ort des Widerstands. «Zu dieser Zeit liefen einige Freundinnen und Freunde von mir stets mit einem Demo-Set mit Zahnbürste und frischer Unterhose herum – im Falle, dass sie festgenommen würden», berichtet Andrea. Viele der aktivsten Demonstrant*innen hätten bereits einen Ausreiseantrag gestellt und deshalb nicht mehr viel zu verlieren gehabt. Denn sowohl ein Ausreiseantrag als auch die Teilnahme an einer Demo bedeutete ziemlich sicher, dass man selbst oder die Familie Repressalien ausgesetzt sein würde.

 

Aufatmen und Reformieren

Nach diesem furchtbaren Sommer, wo einer nach dem anderen gefehlt habe und in vielen die Hoffnung auf Veränderung gestorben sei, «erscheinen der 9. Oktober mit der ersten grossen, auf beiden Seiten gewaltlosen Demonstration und dann die Maueröffnung am 9. November wie ein Wunder». Die Zeit nach dem Mauerfall sei von einem «befreiten Gefühl» geprägt gewesen – einem einzigen Aufatmen. «Jetzt konnte man überallhin gehen. Wenn man sich auch im Westen nicht sofort alles leisten konnte, so konnte man es sich wenigstens angucken gehen», meint Andrea lachend.

Die Montagsdemonstrationen setzten sich auch nach der Öffnung fort und wurden grösser. In Leipzig startete man nun von allen vier Innenstadtkirchen aus. Auch Andrea war jeweils dabei. Die ursprüngliche Intension sei dabei immer eine Reform gewesen, sagt sie und zeigt ihre gesammelten Flugblätter aus der Zeit. «Demokratie-Initiative 90» titelt das eine Papier. Es fordert freie Wahlen und eine neue Verfassung, welche das Volk durch ein demokratisches Verfahren selbst erarbeiten solle. Ein anderes ist die Programmschrift des «Neuen Forum». Diese formuliert konkrete Forderungen an Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. So wird beispielsweise die «radikale Abrüstung und Entmilitarisierung der Gesellschaft» oder «die Einbindung der Ökologie in alle ökonomischen Prozesse» gefordert. Das Neue Forum stehe ausserdem für eine Marktwirtschaft ein, die «soviel Markt wie notwendig und soviel soziale Absicherung, wie möglich» beinhalte.

Man habe in den ersten Monaten die DDR und den Sozialismus nicht abschaffen, sondern verändern wollen, sagt Andrea. Natürlich habe man gesehen, was die im Westen alles hätten und das habe man auch gewollt. Aber es sei nicht um eine Revolution gegangen, sondern um die Demokratisierung des Systems und mehr Freiheit.  «Bis uns dann das Narrativ der Wiedervereinigung übergestülpt wurde». Auf einmal seien diese Plakate aufgetaucht mit einer halb geschälten Banane, aus der eine Bockwurst wuchs und darunter stand: «Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.»

 

Carepaket aus dem Osten

Ihrer Freundin im Westen schickte Andrea ab und zu ein Carepaket mit «Ost-Zeugs», wie beispielsweise, je nach Wunschliste, mit Kaffeefiltern. Da die Freundin und ihre Familie nicht mit dem Einsatz ihres Lebens über Ungarn und Österreich bzw. über Prag in die BRD geflüchtet, sondern nach dem Besuch einfach bei der Grossmutter geblieben waren, bekamen sie kein Geld vom Staat. Sie, die in der DDR Physik studiert hatte, verdiente einige Monate ihren Lebensunterhalt im Schichtdienst bei Bosch am Bohrmaschinen-Fliessband. Sie musste da ziemlich hart unten durch. «Da habe ich schon bald gemerkt, dass das mit der Wiedervereinigung nicht so einfach wird», sagt Andrea.