«Das Wichtigste sind Vorbilder»

von Rita Jost 8. Juli 2020

Christine Früh Schlatter ist seit bald zwanzig Jahren Berns erste Stadtgeometerin. Kaderfrau in einem immer noch hauptsächlich von Männern dominierten Beruf zu sein, findet sie heute ganz normal. Aber es brauche nach wie vor Vorbilder.

Christine Früh hatte gute Vorbilder in ihren Eltern. Beide waren berufstätig – die Mutter hatte eine eigene Zahnarztpraxis, der Vater war Kreisgeometer. «Mir hat nichts gefehlt», sagt die 49-jährige rückblickend. Aufgewachsen ist Christine Früh in Unterseen, wo sie heute wieder lebt und vieles ähnlich macht, wie ihre Eltern damals. Sie arbeitet 80 Prozent, ihr Mann ist zu gleichen Teilen angestellt. Gemeinsam betreuen sie je einen Tag ihre zwei halbwüchsigen Jungs (13- und 15jährig). Das habe sich bewährt, sagt Früh, obwohl: «es wäre gelogen, wenn ich nicht zugäbe, dass es Phasen gab, in denen es etwas viel wurde.»

Denn die Kaderfrau auf der Berner Stadtverwaltung ist ja auch noch Leichtathletiktrainerin und Mitglied einer politischen Kommission. Aber irgendwie gehe es immer, sagt sie, und «ich habe es ja selber so gewollt». Mutter und Berufsfrau, das war für sie immer selbstverständlich. Geometerin ist sie eher zufällig geworden. Nach dem Studium an der ETH hat sie einige Jahre 100 Prozent auf diesem Beruf gearbeitet.

Rollenfindung war nicht einfach

Das Arbeitspensums hat sie erst nach der ersten Geburt um 20 Prozent reduziert – genauso wie ihr Mann. Interessant sei übrigens gewesen, dass das bei ihr, der Kaderfrau auf der Stadtverwaltung, viel diskussionsloser möglich gewesen sei als bei ihrem Mann, der beim Bund angestellt arbeitet.

Heute scheint das Familien- und Berufsleben der Stadtgeometerin gut ausbalanciert. Nach dem Rezept gefragt, zögert sie etwas und sagt dann: «Ich denke, ich bin recht gut organisiert. Und habe heute ein Umfeld, das gut damit umgehen kann.» Und wie gut geht’s mit dem Switchen von einem Lebensbereich in den anderen? «Seit wir in Unterseen wohnen, gelingt mit das besser als früher, als wir noch in Bern wohnten. Wenn ich in Interlaken aus dem Zug steige, dann ist das Büro in der Regel schon weit weg».

Die Rollenfindung klappte allerdings nicht von Beginn weg so reibungslos. Christine Früh war erst 30jährig, als sie als erste Frau an die Spitze des damaligen Vermessungsamts (heute Geoinformation) gewählt wurde. Die Hälfte ihres Teams war erfahrener. Und es gab zwei Männer, die sich ebenfalls für den Job beworben hatten. Das habe sie zu Beginn belastet. Bis sie das Thema einmal an einer Sitzung thematisiert hat. «Damit gelang es uns, die Situation zu entkrampfen».

Männerdomäne in Frauenhand

Das Amt ist auch heute noch fast ausschliesslich eine Männerdomäne. Frauen melden sich höchst selten für Jobs in diesem Berufsumfeld, wo es um Vermessungen, Katasterpläne, Baugesuche, Leitungsdaten usw. geht. Aber – sagt Christine Früh nicht ohne Stolz – «wir haben immerhin eine Geschäftsleitung, die zur Hälfte aus Frauen besteht». Und kaum ein Vater im Team arbeite 100 Prozent. Dass das ihr Verdienst ist, will sie nicht behaupten. Aber an sich stellt sie eine Bewusstseinsveränderung fest: «Es ist mir heute bewusster, dass ich eine Frau in einem Männerberuf unterwegs bin. Es ist mir wichtig, dass es Vorbilder gibt. Damit es selbstverständlich und ganz normal wird, dass Frauen für technische Berufe genau gleich geeignet sind. Und nebst Kaderjobs auch Mutter sein können.»

80% als Kaderfrau – wie geht das?

Geoinformation Stadt Bern wurde 2016 als erste Dienststelle der Stadtverwaltung Bern als familienfreundliche Arbeitgeberin ausgezeichnet. Das Prädikat steht für eine Personalpolitik, die es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglicht, Familie und Beruf zu vereinbaren. Pensenreduktionen und die Möglichkeit von Homeoffice machen es möglich. Wie das im Fall von Christine Früh aussieht, erklärte sie kürzlich im Interview mit der hauseigenen Zeitung Be-Ton. (Interview: Martin Lehmann)

 

Frau Früh, Sie gehören zum Kader der Stadt­verwaltung, trotzdem arbeiten Sie lediglich 80 Prozent und machen an einem Tag auch noch Homeoffice – wie soll das gehen?

Das geht gut. Erstens habe ich qualifizierte und selbständige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und zweitens bin ich auch erreichbar, wenn ich nicht im Büro bin. Handy und Mail sei Dank. Konferenzen kann man auch per Video durchführen.

Gehen wir Ihre Arbeitswoche einmal durch: Am Montag …

… arbeite ich zuhause. Wenn meine beiden Buben zur Schule gegangen sind, beginnt ein normaler Arbeitstag: zwar an einem anderen Schreibtisch, aber mit derselben Bildschirmoberfläche. Homeoffice ist eine einsame Sache – ich bin den ganzen Tag alleine – gleichzeitig ermöglicht es ein sehr konzentriertes, ungestörtes Arbeiten. Deshalb befasse ich mich am Montag oft mit konzeptionellen Aufgaben.

Dienstag, Donnerstag und Freitag sind ihre Bürotag. Mittwoch haben sie frei. Rühren Sie da keinen Finger fürs Büro?

Manchmal beantworte ich am Vormittag die eine oder andere Mail, und im Notfall bin ich für mein Team erreichbar. Aber grundsätzlich ist der Mittwoch mein Haushalt- und Familientag: ich kaufe ein, koche, esse mit den Kindern und helfe ihnen bei den Hausaufgaben. Und am Abend trainiere ich die Jugendlichen Leichtathletinnen und Leichtathleten des TV Unterseen.

Dass Sie nur an drei von fünf Tagen im Büro sind: Findet Ihr Team das eigentlich unein­geschränkt toll?

Für mich als Chefin ist das vermutlich einfacher als für meine Leute: Ich steuere mein Arbeitsprogramm weitgehend selbst. Ich gebe auch die Termine vor. Insofern braucht es seitens meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon Flexibilität und Offenheit bezüglich Arbeits- und Kommunikationsformen.

Offenbar funktioniert  es – immerhin arbeiten zahlreiche Leute aus Ihrem Team selbst Teil­zeit oder tageweise zuhause. Nerven Sie sich nie, wenn jemand, den Sie unbedingt spre­chen müssen, nicht an seinem Arbeitsplatz ist?

Die Person ist an ihrem Arbeitsplatz – halt einfach bei sich zuhause, und dort kann ich sie ja anrufen … Heute ist es dank Technik möglich, zu fast jeder Zeit und an fast jedem Ort Zugang zu sämtlichen Unterlagen zu haben, die man fürs Arbeiten braucht. Es ist eine der Frage der Organisation und des Vertrauens. Über meinen Homeofficetag würde ich notfalls mit mir diskutieren lassen. Aber über meine Teilzeitarbeit nicht.

Und warum nicht?

Weil mir meine Familie und meine Kinder wichtig sind. Und weil es ein grosses Stück Lebensqualität ist, an einem Tag pro Woche zu tun und zu lassen, was man will. Dafür bin ich auch bereit für Extras: Wenn etwas unbedingt getan werden muss, dann tue ich es – auch wenn ich frei habe. Im Übrigen habe ich gemerkt, dass mein Teilzeitpensum auch meinen Leuten zugutekommt: Nachdem ich auf 80 Prozent reduziert hatte, sagten mir gleich mehrere Angestellt am Mitarbeitergespräch: «Seit du Teilzeit arbeitest, bist du die angenehmere Chefin.»