Es war Spätherbst. Tobias Santschi und seine damalige Freundin fuhren auf Fahrrädern nach Hause – nach einer gut ausgefeierten Nacht. Schon immer hatte er Herausforderungen gemocht. Auch im nüchternen Zustand kurvte er durch die Straßen am liebsten auf dem Hinterrad. In jener Novembernacht tat er das mit 1,4 Promille. «Na ja, das war ein bisschen zu viel», sagt er und lächelt leicht.
Tobias Santschi humpelt, wenn er geht. Das Interview findet bei ihm zuhause in Bern-Brünnen Westside statt. Während er spricht, bereitet er Kaffee zu. Er geht zwischen Kaffeemaschine und Kühlschrank hin und her, holt Kaffeekapseln aus dem Schrank, schäumt Milch. «Den Kühlschrank öffne ich immer mit der linken Hand», sagt der 48-Jährige. «Auch eine Milch oder ein Jogurt nehme ich immer mit links raus.» Es geht langsamer mit der linken Hand. Man sieht ihr an der Haltung an, dass sie Mühe hat zu koordinieren und zu greifen. «Aber auf diese Weise zwinge ich mich, die linke Hand möglichst viel einzusetzen und sie so zu trainieren.» Ansonsten macht Santschi fast alles mit der rechten.
Die Freundin hielt den waghalsigen Fahrstil von Santschi nicht mehr aus, sie wollte in jener Novembernacht nicht mehr weiter zusehen. Sie überholte ihn und fuhr den Nachhauseweg voraus. «Als ich dann nie nachkam, kehrte sie zurück und fand mich halbtot am Boden.»
Das war 2005. Tobias Santschi war 31 Jahre alt. Als Maschinenbau-Ingenieur arbeitete er in einer Schweizer Firma in der Region Bern. Davor war er für das französische Unternehmen Alstom im Ausland tätig. Immer unterwegs. Als Ingenieur nahm er thermische Kraftwerke in Betrieb, in Australien, Malaysia, Vietnam.
Die Erinnerung ist weg
«Die Wahrscheinlichkeit ist relativ groß, dass ich fahrend auf dem Hinterrad umgefallen bin. Aber das weiß man halt nicht genau. Ich selbst, ich weiß nichts mehr, null.» Alles, was kurz vor dem Unfall und in den Wochen danach passiert ist, hat man ihm später erzählt. Tobias Santschi erinnert sich bis heute nicht an diese Zeit. Der Unfall war ein Wendepunkt in seinem Leben.
Seine Freundin rief die Ambulanz an. Die Notfallärzte mussten dem bewusstlosen Mann am Boden einen Luftröhrenschnitt machen, «sonst wäre ich erstickt», sagt Santschi. «Ich habe nicht mehr geatmet.» Nach dem Schnitt wurde er sofort künstlich beatmet und auf die Intensivstation gebracht. Man wusste nicht, ob er wieder aufwacht.
Alles, was kurz vor dem Unfall und in den Wochen danach passiert ist, hat man ihm später erzählt. Tobias Santschi erinnert sich bis heute nicht an diese Zeit.
«Ich war sechs Wochen im Koma.» Was das Erste gewesen sei, woran er sich erinnern konnte? Das sei sehr schwierig zu sagen. Aber er möge sich noch an die Momente erinnern, «die so unangenehm waren», wenn es ihm am Rücken juckte und er sich nicht kratzen konnte. «Ich lag im Bett, konnte mich kaum bewegen, kaum drehen.» Die Ärzte sagten ihm, dass die Chance sehr klein sei, dass er wieder gehen könne. Das ließ Santschi nicht auf sich sitzen. Er entschied: «Doch, ich werde wieder gehen!»
«Ein großer Teil meines Hirns ist beschädigt», erklärt Santschi. Mittlerweile sitzt er am Küchentisch, hat seinen Cappuccino fertig getrunken. «Ich liebe Cappuccino und Kekse mit Schokolade.» Vor ihm liegt sein Handy, das er immer in seiner Nähe hat. Und fürs Foto hat er seinen Lieblingshut angezogen, den er immer trägt, wenn er unterwegs ist. «Ich hatte fünf Hirnblutungen. Es gibt Leute, die nach einer Hirnblutung nie wieder so gehen und reden wie ich heute.»
Aus dem Koma wieder aufgewacht, fing die ganze Aufbauarbeit an. Santschi musste alles neu erlernen. «Das war eine zweite Kindheit.» Nach dem Spital ging es in ein Rehabilitierungszentrum, dann in Wohnheime, in verschiedenen Orten der Schweiz, im Aargau, Jura, in Bern. Alles in allem waren es rund fünf Jahre in Institutionen, bis 2010, zahlreiche Stunden Physiotherapie und Logopädie.
Ich wollte meinen Töff nicht verkaufen. Ich sagte immer: Den werde ich wieder fahren.
Wann stellte Santschi fest, dass es ein neues Leben ist? «Das kam fließend, sehr fließend.» Es existiere nicht dieser bestimmte Punkt. Zum Beispiel: Er sei ein Motorrad-Freak gewesen und habe vor dem Unfall fast jeden Tag auf dem Motorrad gesessen. «Ich wollte meinen Töff nicht verkaufen. Ich sagte immer: Den werde ich wieder fahren.» Als er fünf Jahre nach dem Unfall immer noch nicht richtig gehen konnte, habe er bemerkt, dass es keinen Sinn mache, ihn zu behalten. «Ich verkaufte ihn.» Das war ein Meilenstein.
Das war alles in etwa gleichzeitig: 2010 verkaufte er sein Motorrad, zog in seine eigene Wohnung ein, stellte den Rollstuhl im Treppenhaus im Parterre hin und holte ihn nur noch für den Einkauf im Supermarkt oder für den Weg ins Fitnessstudio oder zu Konzertbesuchen hervor. «Sieben Jahre nach dem Unfall, 2012, räumte ich den Rollstuhl schließlich in den Keller − seither habe ich ihn nie mehr gebraucht.»
Der Unfall gehört zu mir und meinem Leben.
Wie hat er es geschafft, wieder zu gehen? Er hat gekämpft. Er übte tagein, tagaus. Immer ein bisschen mehr, als man von ihm erwartete. Treppen hoch, Treppen runter. Manchmal verbrachte er mehr als fünf Stunden im Fitnesscenter.
Nicht gehen, nicht reden, nicht schreiben. «Was man alles nicht mehr kann, hängt davon ab, ob mehr die linke oder rechte Hirnhälfte beschädigt ist», weiß Santschi. Die eine Seite würde mehr das Sprachzentrum beeinflussen, die andere mehr das Koordinative. «Meine rechte Hirnhälfte ist kaum beschädigt, aber die linke. Ich habe eine Art Hemiplegie.» Er spezifiziert, genau genommen habe er eine Hemiparese – er sei auf einer Seite «teilweise gelähmt». Dies bedeutet in seinem Fall, dass er in der linken Körperhälfte eine verminderte Kraft in Gesicht, Arm und Bein hat. Das bemerkt man ein wenig an seiner Mimik und an seinem etwas glasigen Blick. Ebenso spricht er bedächtiger als andere.
Das Hirn umgedreht
«Es gibt Leute, bei denen wird man als behinderter Trottel abgestempelt. Wenn sie mich reden hören, möchten sie nicht mehr mit mir sprechen. Oder nehmen mich einfach nicht mehr ernst, urteilen, dass ich nicht fähig bin, geistig etwas aufzunehmen. Das kränkt mich.» Santschi doppelt nach: «Die denken für sich, dem hat es vor 17 Jahren das Hirn umgedreht, der kann sowieso nicht mehr gut überlegen.»
Santschi liebt Sprache und Mathematik. Seit dem Unfall hat er Französisch und Deutsch aufgebessert und angefangen, Spanisch und Griechisch zu lernen. Er gehört zu den Menschen, die einen breiten Wortschatz besitzen. Außerdem arbeitet er momentan intensiv an der Aussprache der deutschen Sprache, so wie sie in Deutschland gesprochen wird. Dazu liest er viel, schaut Videos. Er wolle nicht dieses Kuhschweizer-Hochdeutsch reden, sagt er lachend.
Den Humor hat er behalten. Oft kommentiert er Dinge mit Galgenhumor oder mit einem verschmitzten Lächeln. «Humor verlieren?», sagt er, «Das bringt mir nichts.» Er müsse an den Dingen Freude haben, die er noch habe. «Das ist eine Lebensphilosophie: das zu akzeptieren, was du hast, und daraus das Beste zu machen.»
Wenn du mal von der Invalidenversicherung zum Invaliden erklärt wurdest, gibt es nie mehr einen Test, um abzuklären, zu was du fähig bist.
Und Mathematik mochte er schon immer. Da denkt er manchmal: «Ich habe nach wie vor zum Teil die Kapazität hochstehende Sachen begreifen zu können, mathematische Formeln. Aber wenn du mal von der Invalidenversicherung zum Invaliden erklärt wurdest, gibt es nie mehr einen Test, zum Beispiel einen kognitiven, um abzuklären, zu was du fähig bist, was du noch schnallst. Bis heute hat niemand bemerkt, dass ich sehr gut rechnen kann.» Er winkt ab. Fügt an: «Kurzum: Du wirst in eine Schublade getan und dort bleibst du – außer du kämpfst dich selbst heraus.»
Kurzfristig hat Tobias Santschi keine Pläne, er lebe von Tag zu Tag, einkaufen, kochen, aufräumen. Gehe regelmäßig an die Treffen der Organisation Fragile Suisse, die Hirnverletzte begleitet. Weiter besuche er drei Mal die Woche das Fitnesscenter und sei viel draußen, am Barfußlaufen oder Aare-Baden. «Ich mache fast alles für mein Immunsystem, kalt duschen, gut ernähren, viel Sport. In mittelfristiger Zukunft könne er sich vorstellen, Mathematik zu unterrichten.
«Vor über 17 Jahren hat man mich noch mit dem Lift aus dem Bett geholt und in die Dusche gefahren, ich konnte mich nicht bewegen, nicht reden, nicht gestikulieren. Wenn ich Bilanz ziehe, sicher, dieser Unfall war wahnsinnig schlimm, ich habe sehr viele Sachen verloren, und ich kann noch so viele Millionen Treppenstufen gehen: einen Salto machen, das werde ich nicht mehr. Damit habe ich mich abgefunden. Aber im Großen und Ganzen will ich diesen Unfall gar nicht rückgängig machen. Der gehört zu mir und zu meinem Leben. Es geht darum, es zu akzeptieren, das gelingt mir immer wie besser. Ich fühle mich eigentlich sehr glücklich. Und dass ich irgendeinmal wieder den Grand-Prix renne, dass habe ich bis heute nicht aufgegeben.»
Dieses Portrait erschien zuerst beim Tentakel Magazin.