Das unvollendete Flickenkleid

von Fredi Lerch 25. Januar 2022

Bevor Christian Bärtschi zwanzig Jahre lang das Weissenheim in Bern leitete, war er in Adelboden «Bärgpurebueb», im Seeland Primarlehrer und in Argentinien Entwicklungshelfer: Jetzt hat er einen neuen Band mit adelbodendeutschen Erzählungen herausgebracht.

«Adelbodetütschi Alltagsgschichte» – so heisst das neue Buch von Christian Bärtschi. Nach «Ds Nieseliecht», «Ä Welbi» und «Dr Haaggestäcke» ist es das vierte einer Serie. Allen vier Büchern gemeinsam ist, dass sie im Dialekt, den man in Adelboden spricht, geschrieben und in kurzen Erzählungen «Erläbts un Ersinets» gestaltet sind – so der Untertitel von «Ds Nieseliecht».

In jedem dieser Bücher spiegeln sich die Stationen des 1939 geborenen Bärtschi: die Kindheit als «Bärgpurebueb» in einer frommen Familie im «Bode» des Entschligtals; die Zeit im Lehrerseminar Muristalden und die frühen Berufserfahrungen als Primarlehrer im Seeland; die Zeit als Entwicklungshelfer im argentinischen Urwald, wo er eine Schule mitaufgebaut hat; wieder in Bern und nach der Ausbildung zum Jugendpsychologen, dann seine Zeit als Heimleiter des Weissenheims – und schliesslich die Jahre als Geschäftsleiter der Sektion Bern des Schweizerischen Heimverbands, die Pensionierung und sein Engagement für das Adelbodner Dorfarchiv und als Redaktor der Zeitschrift «Adelbodmer Hiimatbrief».

Sprache der Enge – Sprache der Emanzipation

Bärtschis ganze Biografie kann man interpretieren als eine Reihe von Emanzipationsschritten aus der engen Welt seiner Familie und der sonntäglichen Zusammenkünfte des freikirchlichen Brüdervereins. Wie eng diese Welt zuhause war, erzählt Bärtschi an seinem Stubentisch im Osten von Bern: «Ich hatte einen Schulfreund, der hat sehr gut Handorgel gespielt. Einmal kam er an einem Abend zu mir, hat sein Instrument mitgebracht und ich habe ihn gebeten, etwas zu spielen. Er stimmte einen Ländler an. Mein Vater, der in der Stube nebenan sass, begann sofort zu rufen: «Ufhöre! Ufhöre!» Ländler war weltliche Musik, Wirtshausmusik. Solche Musik durfte ich nicht hören, nicht einmal, wenn sie aus einem Radio kam.» Und als er während der Seminarzeit, in der er an den Versammlungen des Brüdervereins nicht mehr teilgenommen habe, einmal zuhause gewesen sei, habe seine Mutter kummervoll zu ihm gesagt: «Wen ig gwüsst hetti, wela Wääg du yschlaascht, de we mer lieber gsy, du weescht als Chind gstorbe, denn wa du nug der rächt Gluube ghabe hescht!»

christian bärtschi buchcover
Christian Bärtschi (Zweiter von rechts) mit seinen drei Geschwistern vor 1945. (Foto: zvg)

Aber warum beschreibt Bärtschi seine Emanzipationsschritte ausgerechnet in der Sprache dieser engen Welt – und nicht hochdeutsch oder im stadtberndeutschen Dialekt, den er akzentfrei spricht? Adelbodendeutsch sei etwas von dem gewesen, erzählt Bärtschi, dass er tatsächlich über lange Zeit gerne ganz abgelegt hätte. Erst Jahre nach der Pensionierung, beim Aufbau des Dorfarchivs in Adelboden, sei ihm bewusst geworden, dass seine Muttersprache eigentlich eine schöne Sprache sei.

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

Und dann sei da noch die Schriftstellerin Maria Lauber (1891-1973) gewesen, die zwar fast im Unterland, in Frutigen, gelebt habe, aber eine Adelbodnerin gewesen sei. Mit ihren Werken im Dialekt habe sie ihm «z’Hütti ufgää». – Der Journalist aus dem Unterland schaut ratlos. – «E ja», sagt Bärtschi lächelnd, «die Hutte[1] angehängt – das Gewicht der Aufgabe, adelbodendeutsch zu schreiben, übergeben».

Gödi, Erika und Juan Carlos

Was an Bärtschis neuem Buch immer neu berührt, ist die Intensität, mit der er Personen zu zeichnen versteht. Da ist zum Beispiel das «Gödi und sy Frou», ein Ehepaar, dass sich nichts gönnt und kaum etwas hat, aber immer fleissig arbeitet und hilft, wo es kann: «Ä Tiil Lüt hin dem Gödi nahigsiit, äs sigi gyttigs. Aber das ischt äs wääger nät gsy. Ä Gyttiga isch ä Mentsch, wa numen uf siig gschouet, den andere nüt mag göne u numen uf sym Gältseckel sitzt. Äs ischt äben än Underschiid zwischen Gyt und Hüsligi.» Oder Erika, die mit ihren Eltern im Tal Ferien macht und der Familie Bärtschi am Chuenisbärglihang oben fast jeden Tag beim Heuen hilft. Am 1. August wird’s wegen der schönen Höhenfeuer talauswärts spät und der halbwüchsige Ich-Erzähler begleitet Erika den stockfinsteren Weg hinunter ins Tal, zur Ferienwohnung. «Was het ma da andersch wele, wäder Hand y Hand süferig desahi z tüüssle?» Ein unvergesslicher Abstieg für den Erzähler – allerdings: «Ig ha nie meh öppis var Erika ghöert.» Oder Juan Carlos, der zwar «ä blaublüetiga Paraguyanaer», aber daneben unter den Schulkindern im Urwald ein Einzelgänger gewesen sei. Viele Jahre später meldet sich dieser Juan Carlos, jetzt Fürsprecher in Asunción, zum Besuch an – und als Bärtschi mit ihm in Bern ins Gespräch gekommen sei, wuchs sein Verdacht, dass der Verschüpfte von damals jetzt im Kinderhandel tätig war. – Und so weiter.

Letzthin, erzählt Bärtschi, habe er die bisher vier Erzählbände durchgesehen und festgestellt, dass er aus seinem Leben bisher 109 Episoden aufgeschrieben habe. Was vorliege, sagt er, komme ihm vor «wie ein Flickenteppich», der mit der Zeit «meine Person oder mein Kleid ausfüllen wird». Aber fertig ist dieses Kleid noch nicht.

[1] Rückentragkorb mit Brätschlen (hölzerne Tragvorrichtung).

Hör- und Leseeinstieg ins Adelbodetütsch

Um den Einstieg in die Lektüre seines Buches zur erleichtern, liest Christian Bärtschi für das Journal B-Publikum den Anfang von einer seiner Erzählungen im neuen Buch vor: Sie trägt den Titel «Ä Purery ir Stadt». (Soundcloudlink unten nach dem Text.)

Hier die Passage zum Mittlesen:

«Zum Wyssehiim, ämene Sonderschuelhiim fur bsunderi Chind, waan ig während zwenzg Jahre mit myre Familie gläbt u gschaffet hat, het nug ä chlyna Landwirtschaftsbetriib gehöert. Di miischte van de Chind, wa bin üüs ufgwagse un im Hiim i d Schuel ggange sy, sy vam Land zun üüs i d Stadt choe. Äs het Chind drunder ghaben us em Emetal, Oberland, Seeland, us em Jura – aber og us Nachpurkantön wie Fryburg ol Soloture. D Chind hii bin üüs nät nume Stadt um sig ghabe, nii, ds Hiim ischt schier wien än Oase am Stadtrand va Bääre gsy. […]

Ig ha am Aafang niemer ghabe, wan der Stall u d Purery bsorget hetti. Drum han iig, der Hiimliiter, sälber müessen yspringe. Zum Glück han ig i myre Chindhiit og puret u han öppis verstande van de Tier. Ig ha o scho als chlyna Bueb glehrt mälche, aber nie hetten ig gsinet, dass ig als Vorsteher va däm Hiim am Morgen un am Aabe sälber i d Stallhosi müessti schlüüffe. Ds Gueta derby isch gsy, dass gyng oppa Chind um mig um sy gsy, u mengischt hii si sogar öppis chöne hälffe.

Mengs van däne Chind het ä Beziehig zun üüsne Tierlene ufgnoh, het si törffen aarüere, strychle u tätschle. U mengischt hets mig tuucht, äs gangi ne ringer mit de Vierbiiner z rede wa mit den erwagsene Mentsche.»