«Das stadtbeherrschende Gewitter»

von Christoph Reichenau 28. August 2017

Es ist anders. Es macht neugierig. Es will uns alle anmachen. Und es ist erst der Anfang. Am 6. September beginnt das Musikfestival Bern. Sein Thema: «irrlicht».

«irrlicht», welch ein Wort. Das zitternde Licht im Dunkel. Der Kobold, der in die Irre führt, hüpft, tanzt, unstet blinkt. Keine Morsezeichen in der Nacht, keine klare Botschaft – nein, Verlockung, Unruhe, Irritation, Aufruhr, Bewegung, mal hier, mal da ein heller Punkt, so wenig einzufangen wie eine Spiegelung. Da und doch nicht fassbar, ein Gedanke, der durch den Kopf schiesst, ein Blitz aus heiterem Himmel. «In die tiefsten Felsengründe lockte mich ein Irrlicht hin», beginnt in Wilhelm Müllers Text eines der Lieder aus dem Zyklus «Die Winterreise», den Franz Schubert vertonte.

Auf drei Jahre angelegt

Ludwig Hohl hat vor achtzig Jahren geschrieben: «Breit liegt unser Mittag um uns, die mittägliche Stadt in Schwere und Ausdehnung; am fernsten Rande der Himmel, als fast unnennbare Nuance, sitzt ein Wölkchen, man kann sagen, unwirklich; nur ‘Träumer’ erspähen es: von dort her aber bricht es, das die jetzige breite Stunde ablösen wird, von dort her wird es brechen, das in kurzem stadtbeherrschende Gewitter. Es kommt, es wird nahen, es zerschmettert die Mitte» (Von den hereinbrechenden Rändern, 1937).

Nun zieht das Wölkchen «irrlicht» über Bern in Form des neu gedachten und gestalteten Musikfestivals. Es soll spannend sein für Expertinnen und Experten und einnehmend für die gesamte Bevölkerung: Jung und Alt, Kenner und Anfänger, Menschen mit Behinderungen und solche, die sich ohne Einschränkungen wähnen. Die Programmarbeit ist auf drei Jahre angelegt. Nach dem Start im September (vom 6. bis zum 10.) geht es 2018 und 2019 weiter.

Spuren legen und hinterlassen

Was dürfen wir erwarten? Ein kleines Kuratorium hat ein Programm mit Profil ersonnen, das unter Einbezug von Berner Musikerinnen und Musikern und Ensembles international nachhaltig werden soll. Das heisst: MusikerInnen lernen sich kennen, gehen auf Tournee, entwickeln gemeinsam neue Werke. Artists in residence nehmen Anregungen auf und geben Impulse hinein. Sie sind sozusagen unruhige Pole im Wirbel des Festivals. Der erhoffte Effekt: Zu hören sein sollen nicht einfach einmalige Gastspiele, sondern von vielerlei Quellen mitbeeinflusste Auftritte, die Spuren hinterlassen kreuz und quer im In- und Ausland.

Spuren legen und hinterlassen will das Musikfestival auch bei uns allen. Ihm Rahmen des Hauptstadtkulturprojekts Radio Antenne schärfen Hörspaziergänge in der Länggasse die Ohren für die Töne des Quartiers. Jugendliche entwickeln mit Profis ein eigenes musikalisches Irrlicht und führen es auf. Schulklassen und Familien sammeln in der Elfenau Klänge und nehmen sie mit nach Hause. Eigens für das Radiohandwerk ausgebildete JungreporterInnen berichten über alles, was sich am Festival tut. Und Radio Antenne sendet regelmässig 3 Stunden am Tag vom Radiomobil aus für die, die nicht hingegen können. Weit herum hörbar und doch ganz unbekannt weich und sonor sein wird der Glockenklang des Münsters.

Inklusion

Das Musikfestival möchte für möglichst viele Musikinteressierte zugänglich sein. Seit 2017 gehört es zu den Trägern des Labels «Kultur Inklusiv» und setzt sich besonders für die Teilhabe von Menschen mit einer Seh- oder Hörbehinderung ein. Bei ausgewählten Veranstaltungen kommt eine Höranlage zum Einsatz. Mobilitätseingeschränkte Gäste können im Festivalbüro Plätze reservieren. Ihre Assistenzperson hat nach Voranmeldung freien Eintritt. Im Programmheft bieten Texte in Leichter Sprache Musikinteressierten einfache Orientierung.

Viele Besonderheiten

Gibt es ein Highlight? Das gesamte Programm ist in seiner Vielfalt das Highlight. Die einzelnen Anlässe sind so getaktet und getimt, dass man zu Fuss von Ort zu Ort alle rechtzeitig erreicht. Aber natürlich bilden der Auftakt mit der «Winterreise» in der Dampfzentrale und der Abschluss im Restaurant «Löscher» (Alte Feuerwehrkaserne) Höhepunkte. Und sicher ist die Projektion von Murnaus Stummfilm «Nosferatu» mit Jannik Gigers Musik dazu um 22 Uhr im Münster wegen des Zusammentreffens der vielen nicht a priori zusammenpassenden Elemente ein ganz besonderes Erlebnis.

Noch eine letzte Besonderheit: Das Musikfestival lässt den BesucherInnen die Wahl, wieviel sie zahlen wollen und können. Es gibt bei freier Platzwahl drei Preiskategorien Spezial (43 Franken), Normal (30), Minimal (17). Das ist ein Beitrag zur Differenzierung ebenso wie zur Zugänglichkeit für alle.