Es sei ein «Blindflug» gewesen, sagt Daniel Puntas Bernet in den eben neu bezogenen Räumen im Berner Monbijou-Quartier. Als sie das Festival – im Verbund mit Bern Welcome – planten, habe niemand mit Sicherheit wissen können, ob sich ein breiteres Publikum für journalistische Inhalte im Live-Format interessieren würde. «Wir konnten auf keine entsprechenden Erfahrungen im deutschsprachigen Raum zurückgreifen. Aber offenbar haben wir einen Nerv getroffen».
Das gleiche scheint für das Magazin «Reportagen» zu gelten. Seit nunmehr acht Jahren erscheint das halbformatige Heft mit Leinencover sechsmal im Jahr. Konzipiert, redigiert und verantwortet wird es in Bern. Erfinder, Chefredaktor, Herz und Seele des Magazins ist der 54-jährige gebürtige Belper Daniel Puntas Bernet. Über eine KV-Lehre, Tätigkeiten im Marketing und der Finanzbrachen und nach einem nachgeholten Studium kam er zum Journalismus. Er entdeckte die Gattung der Reportage, arbeitete zuerst als freier Journalist und anschliessend festangestellt für die «NZZ am Sonntag» Weil er viel zu wenig dazu kam, diese literarische Form des Journalismus zu pflegen, machte er sich 2011 selbständig und gründete «Reportagen».
Eine Ausnahmeerscheinung
Redaktion, Administration und Verlagsarbeit geschieht in Bern, hier arbeitet eine sechsköpfige Crew. Als Autoren zeichnen Journalisten auf der ganzen Welt. Sie bringen «Weltgeschichte im Kleinformat» im Zweimonatsrhythmus zu den 11 000 Abonnenten. Und diese Leserschaft ist überraschend jung. Puntas Bernet staunt selber, «wo doch alle Studien immer wieder behaupten, junge Menschen würden immer weniger lange Texte lesen». Aber er hat in den letzten Jahren noch andere gängige Branchenregeln Lügen gestraft. So besteht die Frontseite mit Ausnahme einer kleinen Illustration jeweils nur aus kurzen Titelzeilen, und das Magazin bringt ausschliesslich Illustrationen, keine Fotos. Puntas vertraut auf die Fantasie seiner LeserInnen: «Nichts gegen Reportagefotografie, aber an der Seite eines erzählenden Textes, killen sie die Vorstellungskraft», ist er überzeugt.
Die ungewohnt langen Texte kommen im Übrigen praktisch ohne Zwischentitel und Quotes (herausgehobene Zitate) daher, rhythmisiert werden die Seiten einzig durch gezielt eingesetzte Einzüge. «Reportagen» wirkt dadurch anders als andere Medienprodukte: ein bisschen retro, konsequent komponiert, ruhig, aber nicht langweilig – und vor allem eines: kostbar. Das fällt auf in dem nach Aufmerksamkeit heischenden Newsangebot. Und es zahlt sich aus: «Reportagen» wird gerne an Flughäfen oder grossen Bahnhofskiosken gekauft. Offenbar erwerben es die Leute eher wie ein Taschenbuch als wie ein Magazin. Das harte Cover erweist sich da als vorteilhaft. Es lässt die gelesenen Exemplare in Form bleiben, und mit ihren farbigen Buchrücken hinterlassen sie im Regal erst noch eine hübsche Regenbogenreihe.
Genaue 49 Ausgaben sind seit 2011 erschienen mit weit über 300 Geschichten. Das 50. Heft kommt Ende November, soll aber – so Puntas Bernet – keine «Jubelnummer» werden, «wir wollten uns nicht selber feiern.» Immerhin wird diese Ausgabe erstmals eine von der gesamten Redaktion verfassten Geschichte enthalten. Mehr sei nicht verraten.
Ein Blick in die letzte Ausgabe
Blicken wir deshalb noch einmal in die Ausgabe Nr. 49. Diese ist insofern etwas speziell, als sie sechs der 39 für den True Story Award nominierten Festival-Texte enthält. Es sind Reportagen aus Polen, den USA, Bangladesh, China, Südafrika und Panama. Die Redaktion hat sie ausgewählt. Einer dieser Texte wurde am Festival von der redaktionsunabhängigen Jury mit einem True Story Award ausgezeichnet. Es ist die Reportage über Tagelöhner in der chinesischen Wirtschaftsmetropole Sanhe. Der Autor, Du Quiang, ist Reporter und Sachbuchautor und hat für seinen Text 45 Tage mit den Tagelöhnern in Sanhe, am Rande der 12-Millionen-Metropole Shenzhen gelebt.
Die «Sanhe Gods» sind Wanderarbeiter und Tagelöhner, die in illegalen Fabriken arbeiten. Die meisten von ihnen haben ihren Personalausweis verkauft und leben von zwielichtigen Geschäften. Es ist eine Gemeinschaft in einer sich selbst versorgenden Subkultur, einzigartig in China und wohl in der Welt. Überraschend an diesem Text ist einerseits der schonungslose Blick auf einen Missstand in einem Land, das sonst nicht für seine unabhängige Presse bekannt ist, anderseits aber auch die unerwartete literarische Kraft dieses Textes. «Dass wir für die Übersetzung Karin Betz gewinnen konnten, war ein Glücksfall», freut sich Puntas. Die Übersetzung sei, genau wie das Original ein Glanzstück.
Keine neuen Checks nach Relotius
Übersetzungen von Texten, die zuvor in anderen Sprachregionen erschienen sind, stellen aber sonst jeweils die Ausnahme dar. Üblicherweise enthält «Reportagen» Geschichten, die von Reportern exklusiv für das Magazin geschrieben wurden. ReporterInnen werden von der Redaktion beauftragt oder bieten Ideen selber an. Die Recherche entsteht im engen Kontakt mit den jeweiligen Autoren. Dass Fakten gecheckt werden, sei Standard, nicht erst seit Bekanntwerden der erfundenen Spiegel-Reportagen von Claas Relotius.
«Reportagen» wurde übrigens auch Opfer des Fälschers aus dem Hause Spiegel, was den Chefredaktor heute noch sichtlich ärgert. Aber er hält nichts von der Nach-Relotius-Nervosität. Neue Sicherheitsmassnahmen hätten sie nicht hochgefahren. «Wir arbeiten die ganze Zeit sehr eng mit unseren Autoren zusammen, telefonieren bei Bedarf, auch wenn sie unterwegs sind, kennen sie und vertrauen ihnen». Das sei wichtiger als riesige Faktencheck-Abteilungen. Vertrauen sei ohnehin das A und O im Journalismus. In diesem Sinne hat der Fall Relotius vielleicht doch etwas zu tun mit dem Erfolg des Reportagen Festivals. Ganz viele Menschen wollten wissen: wie entstehen eigentlich Reportagen, wer schreibt sie und wie glaubwürdig sind Reporter?