«Liebe Kulturtäterinnen und Kulturtäter,
lieber Alec von Graffenried,
liebe Gäste
Im nächsten Jahr feiert die Jugendrevolte von 1968 das 50 Jahre-Jubiläum. Paris, Berlin, Berkeley; Globuskrawall in Zürich, die Vietcong-Fahne auf dem Turmspitz des Berner Münsters: wie ein Lauffeuer fegte der Aufruhr durch die Städte der reichen, ersten Welt. In Bern beginnen die Jubiläumsfeierlichkeiten bereits in diesem Jahr. Zwei, vielleicht sogar drei Bücher erscheinen, und im November öffnet eine Ausstellung im Historischen Museum.
«Im Vergleich zu Städten gleicher Grösse im Ausland ist Bern eine Kulturmetropole.»
Bernhard Giger
«Die Phantasie an die Macht!» war ein Leitsatz der Pariser Maiunruhen 1968. Weit gekommen sind wir nicht diesbezüglich. Was den visionären Träumerinnen und Träumern damals vorschwebte, hängt ziemlich in den Seilen. Wir pressen die Revolution zwischen Buchdeckel und stellen sie ins Museum. Dann gehen wir zum Apéro. Nicht auf die Barrikaden.
Es geht uns gut in Kulturbern. Cool, routiniert, als wär’s nie anders gewesen, bewegen wir uns in einem ausgeklügelten und ausbalancierten System des Gebens und Nehmens zwischen Öffentlichkeit und Kulturschaffen. Dann und wann den einen und anderen Aufreger, Gräve, Gurlitt, Häuser, die fusionieren sollen und nicht wollen. Doch damit kommen wir zurecht. Die öffentlichen Kulturausgaben scheinen soweit gesichert, Kulturförderung als öffentliche Aufgabe wird von keiner Seite bestritten. Vielmehr ist das Kulturangebot vielerorts längst relevanter Faktor des Standortmarketings.
In der Stadt Bern haben wir sogar wieder eine Kulturstrategie. Sie reicht bis ins Jahr 2028. In unserer schnelllebigen Zeit heisst das: Sie ist geschaffen für die Ewigkeit. Jetzt müsste man sie bloss umsetzen, bevor sie in der Schublade landet. Hier ist vor allem die Stadt gefordert, nachdem sich der Gemeinderat – in noch anderer Besetzung – zum Ende der letzten Legislatur in einem wahren Energieanfall dahinter gemacht, oder vielleicht eher: geklemmt hat. Zuerst lange Jahre taube Ohren, dann auf einmal totaler Aktivismus. Wobei, auch wir, die Kulturmacher und Kulturmacherinnen, hängen voll mit drin: Die Verdankung der Kulturstrategie listet gegen 300 Namen auf. Genau: Wer hat eigentlich nicht mitgemacht? Wer trägt keine Verantwortung dafür, dass aus dem Papier etwas wird, das sich im ganz normalen Kulturalltag anwenden lässt?
Wir haben einiges erreicht. Wir dürfen auch ein bisschen stolz sein. Bern mit seinen etwas über 140’000 Einwohnerinnen und Einwohnern und einer weiteren regionalen Bevölkerung von noch einmal rund 150’000 hat ein Kulturangebot, das sich sehen lässt. Breit, vielstimmig und vielförmig, und dicht, manchmal fast zu dicht. Im Vergleich zu Städten gleicher Grösse im benachbarten Ausland ist Bern eine Kulturmetropole. Wir sind wie die Grossen, nur kleiner.
«Bern hat eine Ader für das Rebellische, auch wenn man das der Stadt nicht geben würde. Es gibt diesen Hang zur Gegenkultur.»
Bernhard Giger
Ist das eine gute Position, irgendwo unbestimmt zwischen Grossstadt und Provinz? Liegt uns anderes nicht mehr, die Pflege der kleinen Form, die Vielfalt, die manchmal fast überquillt, das Ausprobieren und, ja, das Rebellische? Bern hat eine Ader dafür, auch wenn man das der Stadt nicht geben würde. Es gibt diesen Hang zur Gegenkultur. Das quere Bern hat einen Stammbaum: ein zartes Pflänzchen halt, das liebevoll gepflegt sein will.
Im Zusammenhang mit dem Schubladenmuseum von Herbert Distel habe ich in den Siebzigerjahren in Europa und den USA Künstler und Künstlerinnen besucht und sie in ihren Ateliers fotografiert. In New York und der damals aufstrebenden West Coast-Kunstszene wurde bei diesen Besuchen eine Frage fast immer gestellt: Und wie läuft’s in Bern? Auf der Weltkarte der Kunst war Bern ein Drehpunkt. Arnold Rüdlinger in der Nachkriegszeit und dann vor allem Harald Szeemann in den Sechzigern haben die Kunsthalle zu einer führenden Adresse gemacht, wenn es darum ging, wo die Kunst gerade steht und wohin es sie zieht.
Die Energie, die in der Kunsthalle freigesetzt wurde, infizierte die Stadt. Die Kunstszene blühte und die Kellertheater brachten reihenweise Stücke in Schweizer oder deutschsprachiger Erstaufführung auf ihre kleinen Bühnen. Auf diesen Brettern hat Mani Matter seine Lieder gesungen, und niemand, er am wenigsten, hätte sich vorstellen können, dass er einmal Vaterfigur des Mundart-Rocks und seine Lieder Volksgut sein würden.
Es war Nischenkultur. Oft hart im Gegenwind. Für Szeemanns Kunsthalle – heute Aushängeschild von Berns grosser Zeit – hatte das süffisante, bourgeoise Publikum vor allem Hohn übrig. Die Kellertheater der Nonkonformisten, das Kleintheater Kramgasse 6 oder die Rampe, boten Alternativen zum stockkonservativen Stadttheater. Untergrund, bildlich und wörtlich. Aber sie standen auch am Anfang der freien Theaterszene, die bis heute das Kulturprofil der Stadt massgebend mitprägt. Das Kellerkino – entstanden im Geist der 68er-Revolte – war die erste unabhängige Abspielstelle des alternativen Kinos in der Schweiz. Es begründete eine Tradition des unabhängigen Films, die heute in Bern gleich mehrfach spielt: Im Rex, in der Cinématte, im Kino in der Reitschule, im Lichtspiel und im Kellerkino selber.
«Anstatt mit Klee oder Einstein sollte das Tourismusbüro mit der Reitschule Werbung machen.»
Bernhard Giger
Laut wurde es in den Achtzigern. Durch die Stadt ging ein Riss, die alte bürgerliche Ordnung gegen die neue Lust auf Freiräume. Sie wurden in zum Teil wüsten Kämpfen erobert. Die Reitschule, nach einer ersten, gewaltsam beendeten Besetzung in den frühen Achtzigern, mit einem Kulturstreik Ende Oktober 1987. Wer in dieser Nacht in der gerammelt vollen Halle mit dabei war, als sich das andere Bern euphorisiert in den Armen lag, wird davon, wie vom letzten Meistertitel der Young Boys, noch seinen Enkeln erzählen.
Dreissig Jahre ist es her. Die Reitschule ist unterdessen der wohl zentralste kulturelle Umschlagplatz der Stadt, weil sie viel mehr erfüllt als nur einen kulturellen Auftrag, einen sozialen, der sie zeitweise fast zerreisst, den sie aber durchwürgt, gegen alle Widrigkeiten und politischen Interventionen. Aber eigentlich ist die Reitschule das Aussergewöhnlichste, was Bern zu bieten hat: Ein 30-jähriges, autonomes Kulturzentrum, seit Jahren unter dem Schutz der Mehrheit der stimmenden Bevölkerung, also toleriert, mehr: ins Herz geschlossen auf eine Weise – wo, bitte schön, gibt es das in Europa sonst noch in dieser Art und mit diesem Erfolg? Anstatt mit Klee oder Einstein sollte das Tourismusbüro mit der Reitschule Werbung machen – sie ist einmalig und authentisch. Mit einem Wort: Original 100 Prozent Bern.
Aber Bern, es ist so ein Gefühl, Bern steht im Moment mehr auf fulminanten Auftritt. Von Leuchttürmen ist die Rede. Doch die kannst du nicht einfach anfordern, die musst du erst bauen. Touristische Vermarktung kann nützlich sein, aber sie kommt nur bestimmten Bereichen der Kulturproduktion zu, der Event-Kultur insbesondere. Die Vermarktungsgesellschaft «Bern Welcome», die gegründet werden soll, wird vor allem Schaltstelle für grosse und meistens auswärtige Veranstalter sein. Das ist gut so und bringt der Stadt hoffentlich etwas ein. Doch wie der öffentliche Raum ganz allgemein sinnvoll und unbürokratisch und vielleicht auch kurzfristig kulturell genutzt werden kann, ist damit nicht geklärt. Das Weihnachtswunderland auf der Kleinen Schanze, das der Gemeinderat plant, kann dafür kaum das richtige Modell sein.
«Die Berner Kultur hatte ihre besten Momente immer dann, wenn sie von unten kam.»
Bernhard Giger
Die Berner Kultur hatte ihre besten Momente immer dann, wenn sie von unten kam, von einer Sache, die jemand oder mehrere einfach einmal begonnen haben, ohne darüber nachzudenken, was daraus noch werden könnte. Wie die Galeristin Dorothe Freiburghaus: 47 Jahre hat sie den Kunstkeller an der Gerechtigkeitsgasse geführt, still, aber mir enormer Hingabe. Heute ist der Kulturbetrieb – das ist nicht nur in Bern so – ist zusehends gefangen in den Mechanismen des Apparats, der ihn zum Laufen bringt. Das bedeutet: mehr Druck, mehr Absicherung, mehr Kontrolle. Mehr Steuerung von oben. Die Kultur ist teuer geworden, floppen ist verboten, und eine Idee allein genügt nicht mehr, um Geld für ein Projekt zu bekommen, man muss, was man realisieren will, am besten schon fertig vorlegen. Dieser Trend zum Berechenbaren ist problematisch. Er wird in der Allerweltskultur enden, die ausgewogen, aber langweilig ist. In einer Populärkultur – um nicht zu sagen: Staatskultur –, die es allen recht machen will, aber nirgends verwurzelt ist und damit ohne Identität bleibt.
Transparenz, partizipative Prozesse, das sind heute Leitbegriffe kulturpolitischer Debatten. Teilhabe heisst die Losung der Stunde. Im Schweizer Kulturalltag wird dafür bereits viel und mit grosser Selbstverständlichkeit geleistet. Man kann es mit dem Türenöffnen und Schwellenschleifen aber auch übertreiben. Den einen oder anderen Schritt müssten die, die teilhaben wollen, dann doch noch selber machen.
Und was genau meint Transparenz? Kaderlöhne offenlegen, wie jetzt von verschiedener Seite vehement gefordert? Sicher, das gehört diskutiert. Aber ist Transparenz, je nach dem, wer davon spricht, nicht auch ein anderes Wort für mehr Kontrolle? Und wie soll man sich die partizipativen Prozesse vorstellen? Dass die Kulturabteilung und weitere repräsentativ zusammengesetzte Mitwirkungsgremien beim Spielplan des Stadttheaters mitreden? Niemand fordert das, aber ein bisschen in der Richtung läuft’s halt doch. Stephan Märki hat schon Recht, wenn er dagegen meckert.
Eintrittszahlen, Eigenfinanzierungsquoten, Reserven, Straffung der Organisationsstruktur – all das ist tatsächlich auf fast unheimliche Art bestimmend geworden im Kulturbetrieb. Natürlich, auch die Kultur muss nach wirtschaftlichen Kriterien funktionieren. Das wissen wir, und im Grossen und Ganzen machen wir das mit dem Vernünftig-Haushalten gar nicht schlecht. Jede Wette, es gehen mehr Fussballvereine Konkurs als Kulturinstitutionen.
«Wie soll zum Beispiel Neues entstehen, wenn immer zuerst danach gefragt wird, ob es dafür auch ein Zielpublikum gibt?»
Bernhard Giger
Aber vielleicht liegt’s auch an uns. Vielleicht lassen wir uns zu leicht kontrollieren, vielleicht haben wir die Gesetzmässigkeit des Kulturapparats bereits zu sehr verinnerlicht. Und merken nicht mehr, was wir preiszugeben drohen, wenn der Spielraum enger wird. Wie soll zum Beispiel Neues entstehen, wenn immer zuerst danach gefragt wird, ob es dafür auch ein Zielpublikum gibt? Marktanalyse statt kreatives Chaos – da kannst du es geradesogut bleiben lassen.
Das Geben und Nehmen zwischen Öffentlichkeit und Kulturbetrieb müsste wieder vermehrt das Spiel sein, das es auch und vor allem ist: ein Spiel zwischen Wirklichkeit und Spiegelung, zwischen Analyse und Emotion, zwischen Sehnsucht und Verzweiflung – und nicht in erster Linie eine finanzpolitische Transaktion. Dazu bedarf es einer breiten Vertrauensbasis zwischen Kultur und Öffentlichkeit. Heute herrscht zu viel routinierte Betriebsamkeit, und die Dinge, um die es doch im Wesentlichen geht, werden fast etwas nebensächlich. Dabei wollen wir alle doch das gleiche: dass die Kultur das Leben noch lebenswerter macht, dass sie kratzt und liebkost und uns umtreibt.
Wie im Sommer 68, als Christo die Kunsthalle verpackte. Er hatte kein Zielpublikum. Doch, auf eine Art schon: die Bürger und Bürgerinnen, die fassungslos stehenblieben. Mit der Verhüllung enthüllte Christo eingefahrene Sehweisen. 50 Jahre zuvor haben die Berner Künstler und Künstlerinnen die Initiative ergriffen, um sich selbst ein Haus zu bauen – auch das feiern wir im nächsten Jahr: 100 Jahre Kunsthalle. In der Reitschule veranstalteten sie einen Kostümball, um Geld zu sammeln.
Das Pompeji-Fest in der Reitschule, die umhüllte Kunsthalle: Fixpunkte der Berner Kulturgeschichte. Aber auch Momente des Aufbruchs und der Veränderung. Sternstunden dieses anderen, untergründigen Berner Gefühls. Tragen wir Sorge dazu. Und vor allem: tragen wir es bloss nicht zu früh ins Museum.»