Noch 24 Stunden, dann ist die 40. Ausgabe des Festivals Auawirleben Geschichte. Und Geschichte ist alles, was wir an Privatem und Persönlichem gehört, gesehen und selbst erforscht haben. Wir haben das Thema dieser Jubiläumsausgabe zu spüren bekommen: Das Private spielt eine Rolle. Das gilt nicht nur für die Themen und Geschichten der einzelnen Programmpunkte, sondern auch für unsere Berichterstattung. Deshalb besteht unser Rückblick auf die letzten zwei Wochen dichtes Festivalprogramm aus ganz persönlichen, unmittelbaren, ja rohen Gedanken, Fragen und Erfahrungen. Auawirberichten.
In der Gedankenwelt eines Frauenhassers:
«Kit de survie en territoire masculiniste» 4. Mai, 18:45 Uhr
Dass es bei dem Thema kein leichtes Vergnügen wird, war mir bewusst, doch so niederschmetternd hatte ich mir meinen Einstieg ins Theaterfestival nicht ausgemalt. Trotzdem war es ein geglückter Start. «Kit de survie en territoire masculiniste» nimmt uns mit auf einen Spaziergang, währenddem die Erzählerin über ihre virtuelle Beziehung zu einem Incel-Amokläufer sinniert. Incel steht für «involuntary celibate» (unfreiwilliges Zölibat) und ist die Selbstbezeichnung einer Internetcommunity von Männern, die der Überzeugung sind, ihnen würden Sex und intime Beziehungen vorenthalten.
Einer Trauerprozession nicht unähnlich trotten ich und die anderen Besucher*innen durch die Stadt. Es regnet, einige tragen Kapuzen, andere Regenschirme. Über unsere Kopfhörer lauschen wir der Erzählerin, wie sie von ihren eigenen Erfahrungen mit Sexismus in der Öffentlichkeit und in Gamingcommunitys erzählt und aus Forum- und Tagebucheinträgen des Täters zitiert.
Du gehörtest der Strömung der Black-Pillers an, ‹leg dich hin und verrotte› lautete euer Motto
Dabei begeben wir uns immer tiefer in die frauenverachtende, selbstverneinende und allgemein menschenfeindliche Gedankenwelt der Incels. «Du gehörtest der Strömung der Black-Pillers an, ‹leg dich hin und verrotte› lautete euer Motto», adressiert die Erzählerin den Täter. Ich kriege Kopfschmerzen.
Diese Kombination aus Selbstzerstörung, Selbstmitleid und purem Hass auf alle Menschen setzt mir zu. Ich frage mich, wie man sich so tief in eine Weltsicht verbohren kann, dass man nicht mehr sieht, dass ein Grossteil des erlebten Schmerzes durch diese Schablone verursacht wird.
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Die Erzählerin kontrastiert die Phantasiewelt-Lamentos des Täters mit ihren eigenen Erlebnissen von Belästigung und Übergriffen. Sie bleibt dabei immer empathisch. Das finde ich einerseits bewundernswert und zugleich belastend, ja fast nervig. Doch auch ihre Empathie nimmt ein jähes Ende, als sie den Amoklauf des Täters beschreibt. Im Umschlag, den mir die Künstler*innen am Ende der Veranstaltung in die Finger drücken, werde ich lesen, dass es sich dabei um den Amoklauf von Isla Vista im Jahr 2014 handelt.
Obwohl das alles sehr belastend war, bin ich am Ende froh um die Erfahrung. Viele Fragen werden mich zwar an jenem Abend noch lange im Bett wach halten und auch noch während der nächsten Tage beschäftigen. Doch kenne ich nun die Tore zu dieser Gedankenwelt und die Abgründe, in die sie führt.
Protokoll von: Noah Pilloud
Zwischen Stuhl und Bank:
«It Stays As It Is» 7. Mai, 21:00 Uhr
«Diese Wand haben wir hier hin gebaut und sie bleibt, wie sie ist», verkündet ein Schauspieler zu Beginn des Stücks «It stays as it is» und deutet auf die grau bemalten Holzplatten, die sich am Bühnenrand des Schlachthaustheaters auftürmen. Und weil die Wand so bleibt, bleiben auch die drei estnischen Schauspieler, wo sie sind: mitten im Publikum.
Was folgt ist eine Kaskade an Metaphern: die Tribüne als Hochhaus, das Hochhaus als soziale Hierarchie, der Aufgang als Zentrum, das andere Ende der Stuhlreihen als Peripherie. Es geht ums Besetzen und Besitzen, um Bedrängen und Verdrängen.
Nach der ersten halben Stunde frage ich mich, ob sich aus diesem Metaphercluster wirklich ein ganzes Stück entwickeln lässt. Offensichtlich ja, denn grosso modo bleibt die Aufführung kurzweilig, humorvoll und geistreich.
Am Ende hält das Stück, was es verspricht, denn obwohl es einige Denkanstösse lieferte, bleibt das Gefühl, dass alles so bleibt, wie es ist. Gegen die Lesart, das Stück ermutige dazu, zu hinterfragen, warum es ist, wie es ist, wehren sich die Künstler beim anschliessenden Gespräch. Vielmehr wollen sie das Stück als existentialistisch und bloss beschreibend verstanden wissen.
Damit könnte ich leben, würde da nicht jener Satz aus dem Stück in meinem Kopf widerhallen: «Die Masse denkt nicht ans Ausbrechen, nur das Individuum.» Legt diese Erkenntnis nicht nahe, die individuellen Ausbruchphantasien in einem kollektiven Effort Wirklichkeit werden zu lassen?
Protokoll von: Noah Pilloud
Verloren in der Bedeutungslosigkeit:
«Jinete Último Reino Frag. 2» 10. Mai, 21:00 Uhr
«It’s not that you don’t speak Spanish. Also in Spanish the title remains mysterious», erklären María Salgado und Fran MM Cabeza de Vaca in der Mitte des Stückes. An diesem Punkt, das Stück dauert schon eine gute halbe Stunde, merke ich, dass ich den Titel bis jetzt geflissentlich ignoriert habe – er war mir zu fremd, zu kompliziert. «Jinete Último Reino» bedeutet so viel wie «Reiter letztes Königreich». Schöner Titel und irgendwie auch sehr poetisch – nur leider sehe ich keinen Zusammenhang mit dem Stück oder besser gesagt, dem Fragment (das zweite von insgesamt drei), das wir an diesem Abend zu sehen bekommen.
In diesem Fragment spielt das spanische Performance-Duo mit der rhythmischen und rezitativen Wiederholung von Wörtern, Satzfetzen, Sätzen, die ineinander übergehen, sich verändern und gegenseitig auflösen. Die Wörter werden nicht nur mündlich, sondern auch visuell auf die Bühne geholt.
Die grosse Leinwand hinter dem Duo ist Teil ihrer Sprache, ihres Sprachbildes. Das ist eingängig, zuweilen eintönig und vor allem nicht wirklich fassbar. Es geht um persönliche Sprachfehler und Handschriften, die ausgemerzt werden, es geht um Anpassung und Individualität, um Geschlecht und Einordnung, um Blumen und Widerstand – aber irgendwie auch um nichts so richtig.
Die Performance wird menschlich warm und humorvoll, sobald sich das Duo vom Skript löst, die Handschriften auf der Leinwand kommentiert oder sich gegenseitig interviewt. «Meaning is overrated», sagt María Salgado in einem dieser Momente, «you have to transmit». Ich liebe diesen ersten Satz. Würde ihn einrahmen und in meinem Zimmer aufhängen.
Leider hat der zweite an diesem Abend sein Versprechen nicht erfüllt. Zwischen all den Wörtern und Buchstaben ist dem Duo die Verbindung zum Publikum abhandengekommen. Es rutscht gegen Ende unruhig auf den Stühlen hin und her und auch ich habe gedanklich das letzte Königreich schon komplett aus den Augen verloren.
Protokoll von: Janine Schneider
Entspannen in der Feierabendhektik:
«A Crash Course in Cloudspotting» 11.5. 17:00 Uhr
Auf dem Weg zum Waisenhausplatz herrscht überall in der Stadt sommerlicher Hochbetrieb. Es ist einer der ersten warmen Abende dieses Jahr, viele wollen etwas früher Feierabend machen, sich mit Freund*innen treffen oder noch schnell Einkäufe fürs Abendessen auf dem Balkon erledigen. Inmitten dieser Hektik schicke ich mich an eine knappe Stunde in den Himmel zu starren.
Auf dem Waisenplatz angekommen, erhalte ich einen Zettel mit einer Webadresse und einem Passwort. Nach einer kurzen Einführung schnappe ich mir einen der bereitgelegten Beanbags und richte mich im Schatten der Holzkonstruktion ein. Ich logge mich in die Website ein und setze die Kopfhörer auf. Zuerst geschieht nichts. Dann ertönt plötzlich sanfte Musik.
«A Crashcourse in Cloudspotting» erzählt die Geschichten von Menschen, die im Alltag oft darauf angewiesen sind, sich inmitten des öffentlichen Raumes auszuruhen. Es sind Menschen mit unsichtbaren Behinderungen und chronischen Krankheiten. Schmerzen oder Erschöpfung (oft beides zugleich) zwingen sie, an allen möglichen Orten zur Ruhe zu kommen.
Ich erfahre, welche Qualen für jene Menschen 45 Minuten im Vorlesungssaal oder ein Flug von London nach Berlin bedeuten. Ich erfahre, was es bedeutet, wenn die Beine beim Spazierengehen just in dem Moment aufgeben, als ein Gewitter aufzieht.
Ich lerne, dass so etwas Simples, wie sich hinzulegen, in der Öffentlichkeit mit allerlei Hindernissen verbunden ist. In der Architektur des öffentlichen Raums ist es nicht vorgesehen, in der Gesellschaft stösst es oft auf Unverständnis. Häufig bringen ein Schamgefühl und der Überdruss, sich zu erklären; die Krankheit offenlegen zu müssen, die Betroffenen dazu, sich beim Ausruhen so gut wie möglich zu verstecken.
Indem wir Besucher*innen mitten in der Feierabendhektik auf einem öffentlichen Platz verteilt liegen, könnten wir ein klein wenig zur Normalisierung des Sich-Hinlegens beitragen. Nur haben wir uns fast alle unter Dächer oder hinter Wände zurückgezogen. Und ich bemerke, dass zumindest für mich der Grund dafür nicht allein im Sonnenschutz liegt.
Also nehme ich mir vor, mich künftig öfters einfach mal hinzulegen und in den Himmel zu starren. Denn Schmerzen und Erschöpfung gehören dazu. Auch dort, wo es nicht ins sauber aufgewertete Stadtbild passt.
Protokoll von: Noah Pilloud
Lasst uns Zeit zusammen verbringen:
«Renacimiento» 12. Mai, 20:30 Uhr
Renacimiento, auf Deutsch «Wiedergeburt» oder auch «Aufleben», beginnt mit dem Ende. Mit dem Ende eines Theaterstückes (Richard III.) und dem «Ende des Regimes», wie das erste Kapitel dieses Stücks betitelt ist. Nach dem Ende beginnt «Der Abbau» (zweites Kapitel des Stückes) und zwar wortwörtlich: die Rollladen werden hochgefahren und die Bühnenarbeiter*innen räumen die Kulisse weg. Kanye West liefert den Soundtrack zu den wahren Hauptrollen dieses Stückes: Richard der Dritte war fake, denn eigentlich geht es um die Menschen hinter der Bühne.
Diese haben ihre eigenen, persönlichen Geschichten zu erzählen, ganz beiläufig während einer Pausenzigarette oder beim Licht-Testen. Ich könnte den Bühnenarbeiter*innen ewig bei ihrer Arbeit zuhören und zuschauen. Es ist einer dieser Theaterabende, an denen man sich wünscht, dass das Stück nie zu Ende geht.
Die Geschichten der Bühnenarbeiter*innen werden mit denen eines Ich-Erzählers verwoben, der von seinen Erinnerungen an die Umbrüche der jungen spanischen Demokratie und der Welt im Allgemeinen erzählt. Dieser Monolog aus dem Off fügt dem Stück eine Metaebene hinzu, die aber nie abgehoben wirkt, sondern immer nahe am Leben der Bühnenarbeiter*innen bleibt.
Organisiert euch in Schichten, aber lasst mich nie wieder alleine sein. Lasst uns zusammen Zeit verbringen
Wie heterogen dieses ist, zeigt sich schliesslich im Kernstück des Abends: «Der Platz» (Kapitel 4). Die Bühnenarbeiter*innen diskutieren über einen Beschwerdebrief an die Direktion. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen, habe unterschiedliche Hintergründe und unterschiedliche Haltungen zu ihrem Beruf und den aktuellen Arbeitsbedingungen.
Das Stück gibt mir auch keine Antworten auf diese Themen. Es gibt nur Einblicke: In eine Berufswelt, die mir fremd war, aber auch in eine Wiedergeburt nach der Pandemie, in ein Wiederaufleben nach der Isolation. «Lasst mich nie mehr allein», sagt der Ich-Erzähler zum Schluss und dieser Satz wird mir bleiben, «organisiert euch in Schichten, aber lasst mich nie wieder alleine sein. Lasst uns zusammen Zeit verbringen».
Protokoll von: Janine Schneider