Das Meer des Todes

von Christoph Reichenau 22. Juni 2024

Tausende Menschen sterben jedes Jahr auf der Flucht nach Europa. Gedanken zur Solidaritätsaktion «Beim Namen nennen» der offenen Heiliggeistkirche.

Weisse Stoffstreifen flattern in Reihen um die Heiliggeistkirche. Es sind tausende. Jeder Streifen erzählt stichwortartig vom Tod eines Menschen oder einer Gruppe auf der Flucht. Weitaus die meisten sind auf dem Mittelmeer ums Leben gekommen.

Im Chor der Kirche haben am vergangenen Samstag und Sonntag viele Menschen je eine halbe Stunde Todesschicksale aus einer nicht enden wollenden Liste vorgelesen. Von vielen der zu Tode gekommenen Menschen ist der Name unbekannt und man weiss nicht, woher sie gekommen sind. Die Todesursachen hingegen sind meist bekannt: Die Flüchtenden sind ertrunken, verhungert, ausgetrocknet, ausgekühlt – oder sie starben, nachdem sie es an Land geschafft hatten, bei Pushbacks in Schiffen, die sich nicht steuern liessen, oder an Unfallfolgen in einem Spital. In anderthalb Monaten sterben ein paar hundert Menschen, etwa zehn am Tag. Liest man die nüchternen Angaben, kann man sich der Tränen kaum erwehren.

«Mare nostrum» nannten die Römer das Mittelmeer, auch «Mare internum». Sie sahen es als ihr Eigentum an. Heute endet die Hoheit, der ans Meer grenzenden Staaten, einige Kilometer vor ihrer Küste. Ausserhalb dieser Zone herrscht ein gemeinsamer Krieg der Schengen-Staaten – dazu gehört auch die Schweiz – gegen die von Süden her anbrandenden Flüchtlinge, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge, junge und alte Menschen. Ihr Verbrechen ist es, dem Elend und der Zukunftslosigkeit in ihrer Heimat entfliehen zu wollen und bei uns auf eine neue Chance hoffen.

Bis in die 1930er Jahre war die Schweiz ein Auswandererland

Obwohl in allen Schengen-Staaten Arbeitskräfte dringend gebraucht und gesucht werden, in der Schweiz sind es jetzt und in der kommenden Zeit rund 40‘000 Personen im Jahr, und obwohl der Kampf um Arbeitskräfte zwischen den Ländern im Gang ist, wollen wir von diesen Menschen nichts wissen. Das «Mare nostrum» ist kein «Mare internum» mehr. Es ist das Meer, indem wir die Regeln der Abschreckung und Verfolgung setzen.

Dabei könnte es bei pragmatischer Betrachtung eine gemeinsame Chance bieten, Gewinn für unsere Länder und Gewinn für die Flüchtenden: Hier bei uns bilden wir die angelangten Menschen aus, wie wir auch hier geborene Kinder ausbilden und bieten ihnen Arbeit. Sie arbeiten mit uns und erhalten, ja mehren den Wohlstand. Warum sollte dieser Gedanke abwegig sein? Natürlich muss er präzisiert, konkretisiert, in Regeln gefasst werden, doch das dürfte möglich sein.

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Apropos Möglichkeit: Bis in die 1930er Jahre war die Schweiz ein Auswandererland. Es gab bei uns nicht genug Arbeit für alle. Öffentlich finanzierte Agenturen boten den auf Sozialhilfe angewiesenen Personen und Familien Schiffspassagen und andere Reisen nach Lateinamerika, in die USA, in den Osten Europas an. Die Heimatgemeinden entschlugen sich finanziellen Lasten, vielen Auswanderern gelang am neuen Ort ein erfolgreicher Start. Bei allen Scheusslichkeiten und Ungerechtigkeiten im Einzelfall – es war ein gutes Geschäft. Das könnte es wieder werden, umgekehrt, denn die Schweiz ist ein Einwandererland. Im Klartext: Wir sind auf Einwanderung angewiesen, ob über das «Mare nostrum», das dann diesen Namen verdienen würde, oder auf welchem Weg auch immer.

Von vielen der zu Tode gekommenen Menschen ist der Name unbekannt und man weiss nicht, woher sie gekommen sind (Foto: Nicolas Eggen).