Das lösbarste Problem

von Luca Hubschmied 30. Juni 2022

Im Oktober stellt ein dokumentarisches Theaterprojekt bei Bühnen Bern den Hunger, dessen Ursachen und Bekämpfung ins Zentrum. Ein Einblick in den Entstehungs­prozess geben Regisseur Gernot Grünewald und Dramaturg Michael Isenberg.

Ein gutes Dutzend quadratischer Plattformen steht im Raum, der trotz seiner ausladenden Dimensionen dadurch etwas beengend wirkt. Auf einer Seite steht ein langer Tisch, darauf liegen Bücher, unter anderem von Jean Ziegler. Es ist ein Montag im Mai, wir befinden uns in den Proberäumen von Bühnen Bern in der Felsenau.

Regisseur Gernot Grünewald und Dramaturg Michael Isenberg sitzen bereits am Tisch, eine halbe Stunde bevor die Spielenden zu den Proben eintreffen. «Hunger. Ein Feldversuch», so lautet der Titel des Projekts, das im Oktober dieses Jahres Premiere feiert.

Wir wollen, dass das Publikum trotz der Komplexität nicht resigniert, sondern handlungsfähig bleibt, oder besser wird

Die beiden Theatermacher haben die letzten Monate intensiv recherchiert und sich mit Fragen zu Er­nährung, Hunger und Landwirtschaft auseinandergesetzt. Es ist ihr erstes gemeinsames Projekt. Regisseur Gernot Grünewald lebt in Göttingen und entwickelte zuletzt Projekte am Deutschen Theater Berlin und am Thalia Theater Hamburg. Michael Isenberg weilt bereits etwas länger in der Bundesstadt, er ist seit der Spielzeit 21/22 Dramaturg bei Bühnen Bern.

Der Hunger blieb

Entstanden ist das Projekt durch eine Anfrage von Schauspieldirektor Roger Vontobel an Grünewald, ob er nicht ein Stück erarbeiten wolle, das Diplomatie behandle. «Ich kam dadurch auf ein Thema, das mich schon lange beschäftigt: Täglich sterben Menschen an Hunger, dabei handelt es sich um eines der lösbarsten Probleme», erläutert er. Im Laufe des Entstehungsprozesses sei die Diplomatie immer weiter in den Hintergrund gerückt, der Hunger aber blieb.

Während ihrer Recherchearbeiten führten Grünewald und Isenberg zahlreiche Interviews mit Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, einer Vertreterin der Gemeinwohlökonomie, Politi­ker*in­nen, Mitarbeiter*innen von Syngenta und Mitgliedern eines Projekts der solidarischen Landwirtschaft. Was daraus entsteht, ist ein dokumentarisches Theater, das ohne Stückvorlage auskommt und seinen Text aus diesem Rechercheprozess bezieht.

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Eine Wirkung über das Theater hinaus

Auf die Frage, was ein solches Theater denn von einem politischen Workshop unterscheide, sind die beiden vorbereitet: «Das Projekt konzentriert und ästhetisiert eine persönliche Auseinandersetzung aller Beteiligten», so Grünewald. «Wir haben einen Musiker und einen Videokünstler eingeladen mitzuarbeiten. Dadurch ist die Rezeption eine andere, als wenn wir uns an einen Tisch setzen und über die Sinnhaftigkeit von Planwirtschaft diskutieren.» Denn, fährt er fort, Theater sei ein sinnlich-atmosphärischer Raum und funktioniere über Körper, Licht und Text, die eine Gesamtatmosphäre kreieren. Es klinge zwar pathosgeladen, sei aber ernst gemeint: «Wenn du ins Theater gehst, verlässt du die Wirklichkeit für einen Moment, um einem Teil dieser Wirklichkeit in einem Kunstraum anders begegnen zu können.»

So soll das Bühnenbild aussehen. (Foto: Sam von Dach)

«In der Theaterwissenschaft spricht man auch von Konsequenzverminderung», ergänzt Isenberg, «wer auf der Bühne stirbt, stirbt keinen realen Tod.» Aber die Als-ob-Situation erlaube eine spielerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit im Rahmen der Aufführung. In ihrem Stück solle es aber durchaus darum gehen, auch ausserhalb des Saals eine Wirkung zu erzielen, Gedanken zur Ernährung anzustossen. Wichtig sei dabei, die Zuschauenden nicht mit der Vielschichtigkeit des Themas zu erschlagen, sagt Isenberg: «Wir wollen, dass das Publikum trotz der Komplexität nicht resigniert, sondern handlungsfähig bleibt, oder besser wird.»

Mit der offenen Form des dokumentarischen Theaters geht die etablierte Institution Bühnen Bern ein Wagnis ein. Regisseur Grünewald entwickelte bereits zuvor Dokumentartheaterstücke und schätzt die politische Dimenson: «Ich habe früher als Schauspieler oft gedacht: ‹Was hat mir der Sommernachtstraum noch zu sagen?› Ein Ort wie das Theater ist für mich ein Diskursraum, das heisst ein politischer Raum.»

Gewonnene Aktualität

Tagesaktuelle Politik beeinflusst auch die Stoffentwicklung – durch den Ukrainekrieg wird die Ernährungssicherheit mittlerweile global diskutiert: «Wir haben einige der Interviewten gebeten, ein Statement zum Zusammenhang des Kriegs und der drohenden Hungerkatastrophe abzugeben», sagt Grünewald.

Ein Ort wie das Theater ist für mich ein Diskursraum, das heisst ein politischer Raum.

In Kürze sei ein Interview mit Francisco Marí geplant, Experte für Welternährung und Agrarhandel bei der Organisation Brot für die Welt. «Er stellt das Steigen der Weizenpreise und Spekulation in einen Zusammenhang», sagt Isenberg, «dies möchten wir im Projekt mit aufnehmen.» Die beiden Theaterschaffenden führen weiter aus, dass nun aber nicht alles umgeschrieben werden müsse: «Die aktuelle Weltlage unterstreicht eher die Wichtigkeit unseres Stoffs und der Positionen, etwa die Forderung nach einer Rückkehr zur regionalen, kleinbäuerlichen Landwirtschaft.»

Gärtnern für die Bühne

Nun ist die erste sechswöchige Probephase in vollem Gang, die Schauspielenden werden in der nächsten Zeit zu Expert*innen und eignen sich die Positionen aus den Interviews an. Dazu gehört auch Handarbeit: Die ganze Gruppe besucht die solidarische Landwirtschaftsinitative TaPatate! und darf sich zwei Tage auf dem Feld die Finger schmutzig machen. Dies gilt aber auch für das Publikum. Wenn es im Oktober die Vidmarhallen betritt, erwartet es dort eine Anordnung aus Gartenbautischen – den eingangs beschriebenen Plattformen –, an denen es selbst Hand anlegen darf und dabei im Dialog mit den Schauspielenden erlebt, wie es um den Hunger bestellt ist.