Das Leben abbilden

von Christoph Reichenau 28. Februar 2022

Jean-Frédéric Schnyder gastiert bis Mitte Mai in der Kunsthalle. Hier trat er in den 1960er Jahren an die Öffentlichkeit. Er überrascht auch im Alter. Valérie Knoll nimmt mit der Ausstellung Abschied von der Kunsthalle.

«Ich probiere nie, ich gehe immer richtig dahinter; das läuft dann manchmal aus dem Ruder» – so redet Jean-Frédéric Schnyder über sein Schaffen. Eine grosse Zahl seiner zwischen 1980 und 2021 entstandenen Werke – Bilder, Plastiken, Objekte – sind bis Mitte Mai in der Kunsthalle Bern zu sehen. Zusammen mit der Ausstellung der Werke seiner frühen Jahre im Kunstmuseum bietet Bern derzeit einen eindrücklichen Einblick in das weitgespannte Schaffen eines aussergewöhnlichen Künstlers, der genau das nicht sein will: aussergewöhnlich.

«Die Kunst von Jean-Frédéric Schnyder entsteht aus den Dingen, die ihn umgeben», steht im Saalblatt der Kunsthalle. Schon 1969, in der Ausstellung Pläne und Projekte als Kunst in der Kunsthalle, hatte er seinen Beitrag übertitelt mit Mein Projekt ist es, keine Projekte zu machen. Das blieb sein Motto, bis heute.

Schnyders Kunst belegt alle 7 Räume der Kunsthalle. Jedem Raum verleiht er eine besondere Atmosphäre. In jedem Raum spürt man einen neuen Anlauf, die Welt und das Leben abzubilden und zu befragen.

Stillleben

Fünf grosse Werke setzen Akzente. In der Eingangshalle nimmt eine Art Bibliothek die Längswand ein. Das Eine besteht aus 107 Spanplatten aus Schnitzabfall, gegossen und in Kartons gepackt, fast wie Bücher, fast wie eine Mustersammlung für einen Rohstoff, dessen Wert dadurch hervorgehoben werden.

Vis-à-vis, über der Tür hängt Stillleben, ein gerahmtes Bild, dessen Sujets (Brot, Wein, Kerze, Ananas, Melone, Topf mit Pflanze) Margret Rufener, Schnyders Frau, vorgezeichnet hat und das 1970 mit den Ölfarben entstand, die Franz Gertsch dem Künstlerkollegen überlassen hatte.

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Schnyder wollte so lange daran malen, bis es wie ein «alter Meister» aussah. Das Bild blieb perspektivisch und malerisch unbeholfen; dennoch geht von ihm eine starke Anziehung aus, vielleicht gerade wegen der nicht erreichten Perfektion, die – Zufall? – Gertsch seinerseits auf die Spitze getrieben hat.

Das Andere

Die Ergänzung zu Das Eine ist das gleichzeitig entstandene Werk Das Andere. Es nimmt den gesamten Oberlichtsaal ein: 9‘216 auf einem riesigen Sockel verteilte ungleich grosse Kreuze aus Holz, Nebenprodukte aus Schnitzabfall, die keine tiefere Bedeutung haben sollen als die einfachste verleimte Verbindung zweier Teile zu sein. Sie erinnern an Walter De Marias «The 2000 Sculpture» aus Gipsbarren, die vor Kurzem im Kunsthaus Zürich zu sehen war. Den Betrachtenden gemahnt die Skulptur an einen Soldatenfriedhof.

Das Andere (Foto: Gunnar Meier)

Der Niesen

Die letzten beiden der fünf grossformatigen Werke hängen nebeneinander im Untergeschoss : denken und der Niesen am 21. Dezember.

1987 im selben Jahr entstanden, könnten sie unterschiedlicher nicht sein und dennoch als Pendants verstanden werden. Hier der am kürzesten Tag des Jahres naturalistisch abgemalte pyramidale Berg, über dem gerade die Sonne aufgeht, während sich rosa Nebel in Engelsform lichtet – hell, warm, ein Versprechen.

Da, in dunklen Farben unter dem Mond in einer Waldlichtung, zwei kauernde Gestalten, die angestrengt über einem Stein sinnieren, der die gefurchte Form eines Hirns hat, eine urzeitliche, mysteriöse Szene. Die Bilder ergänzen sich formal, farblich, in Licht und Schatten.

Schmetterlinge

Billige Bilder heisst eine zauberhafte Accrochage im unteren Saal zur Aare hin. Frei über die Wände verteilt, an Nägel hängend, fliegen kleinere und grössere Farbkleckse durch den Raum, Schmetterlingen gleich, Fröhlichkeit und Staunen verbreitend. Die Bilder sind «billig», da sie sich von selbst gemacht haben.

Es sind Tücher, an denen der Maler den Pinsel abgestreift hat, Überbleibsel des bewussten Malens, ohne Absicht entstanden, zu aufwendig zum Abmalen, zu kostbar, fortgeworfen zu werden. So hängen sie hier, 162 Stück, aufgespiesst wie Sommervögel, zart, bunt, Inbegriff des fragil Lebendigen und doch «nur» Putztücher, Pinsellappen.

Billige Bilder (Foto: Gunnar Meier).

Ein abgemaltes Gedicht

«Ein feines Räuchlein steigt / und ist ein Räuchlein nur. / Ein Bäumlein steht und harrt / und ist ein Bäumlein nur. / Ein Wieslein platzt heraus / und ist ein Wieslein nur. / Ein Häuschen klebt daran / und ist ein Häuslein nur. / Die Wolken ziehen weit / und sind doch Wolken nur. / Der Himmel ist so schön / und ist doch Himmel nur. / Die ganze Welt ist viel / und ist doch wenig nur. / Mir scheint sie klein und gross, / mir ist sie ohne Spur.»

Fein säuberlich, Strophe für Strophe in unterschiedlichen Farben hat Jean-Frédéric Schnyder Robert Walsers Gedicht «Welt» in kindlicher Schrift abgemalt. Das undatierte Gedicht des jungen Dichters wurde erst posthum veröffentlicht in einer Sammlung «Saite und Sehnsucht».

Das ganz Kleine und das ganz Grosse, das Flüchtige und das Feste, «alles ist gleich gültig» wie die Kuratorin Valérie Knoll schreibt, alles ist wichtig, in allem steckt Sinn und Anregung, doch «die Spur» muss jede und jeder selbst darin finden.

Nichts ist zu gering, um Kunst zu werden

Man könnte und müsste noch viele weitere Bilder, Objekte, Skulpturen erwähnen. Schnyders Formenwelt ist so offen, wie sein Zugang zur Welt. Nichts ist zu gering, um Kunst zu werden: Die stilisierte rote Nase Pinocchios, die Brandzeichnungen auf Lärchenschindeln, der farbbekleckerte Malerkittel, aus dem eine schwarze Zipfelmütze hängt, die aus Haselästen gebauten Käfige und «Chrutzen“.

Oder Wir, eine Kleinplastik mit vier in die Luft ragenden Holzbeinen, die man eine zeitlang betrachten muss, um zu merken, dass zwei paarhufige neben zwei menschlichen Füssen stehen. Und danach benötigt man weitere Zeit, um das Wir zu enträtseln oder zu erahnen.

Enträtseln

So ist es mit Jean-Frédéric Schnyder: Man weiss nie ganz sicher, was er meint und ob er überhaupt etwas Bestimmtes meint. Manchmal trotzig, manchmal kokett oder verschmitzt wehrt er sich dagegen, ausgefragt zu werden, wehrt  schwierige Gedanken, tiefere Bedeutung ab.

Sein Widerstand gegen das Erklären kann irritieren, etwa wenn er zum grössten Werk das Andere, das immerhin den Hauptraum der Kunsthalle einnimmt, nichts sagen will, obwohl es wohl bei vielen Betrachtern eine Assoziation zum Krieg an sich, zu den Kriegstoten und – heute – zum Überfall auf die Ukraine weckt.

Schnyder muss doch in seinem Werk etwas sehen, das seine Präsentation rechtfertigt, und seine Abwehr wie sein Schweigen wirken entsprechend wie eine schwer verständliche und letztlich unlogische Verweigerung.

Ausschnitt aus Das Andere (Foto: Gunnar Meier).

Ermutigung

Ein ernsthafter Besucher, eine ernsthafte Besucherin braucht Anlaufzeit, um sich davon zu befreien, manche auf den ersten Blick unernst, oberflächlich, verspielt und kindlich erscheinenden Werke als nicht relevante Kunst zu empfinden. Man muss sich einlassen, stehen bleiben, unter die Oberfläche blicken, die Rätsel annehmen. Jean-Frédéric Schnyder wagt es, rätselhaft zu bleiben. Er überwindet die Scheu, das nicht zum «alten Meister» gewordene Stillleben zu zeigen, nicht als Beispiel des Scheiterns, sondern als Ermutigung zum Anfangen.

Der Zauber des Erkennens

So löst er die Kunst aus der Verpflichtung der Perfektion, aus dem Status des zu Bewundernden. Er belässt sie im Vorläufigen, im oft gedanklich und malerisch bloss Angedeuteten. Dadurch, dass wir sie enträtseln müssen, bezieht er uns ein, gibt uns eine Chance, mitzumachen, gleichberechtigt mitzudenken. Seine Ausstellung ist eine Schule des Schauens und – noch mehr – eine oft vergnügliche Schule des lachenden und freudigen Erkennens.

Die Kuratorin Valérie Knoll, die mit der Ausstellung ihre Direktionszeit in der Kunsthalle beendet, schreibt: «Es ist kein Widerspruch, dass Schnyder in seiner ‚Liebe zum Mittelmass‘ Arbeiten schafft, die zugänglich, auch mal anrührend sind, aber zugleich immer das distanzierte Bewusstsein in sich tragen, wie sich ihr So-sein in den Kontext der Kunstgeschichte einschreibt. Es sind auch Bilder über Bilder und übers Bildermachen. Der Akt dazwischen legt ein funkelndes Wissen frei. Was daraus hervorgeht, ist aber keine Erklärung, sondern ein fast heiliger Zauber.»

Fast drängen sie sich als Fortsetzung auf, Hermann Hesses Zeilen aus dem Gedicht «Stufen»: «Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / der uns beschützt und der uns hilft zu leben.» Denn Jean-Frédéric Schnyders Schaffen geht weiter und macht neugierig.