Das kleine «Best of» einer Kippensammlerin

von Fredi Lerch 2. November 2020

«kiosktexte» heisst das Buch der Berner Literaturpreisträgerin Julia Haenni. Ihre Sammlung zeigt, dass in dem Mass neue literarische Textsorten entstehen, in dem die Generation der Digital natives die gedruckte Literatur zu prägen beginnt. 

Julia Haenni war in der Spielzeit 2018/19 Hausautorin am Stadttheater Bern und schrieb in dieser Zeit das Stück «Frau verschwindet (Versionen)». Dafür hat sie vom Kanton Bern 2020 einen Literaturpreis erhalten. Die Laudatio der deutschsprachigen Literaturkommission würdigt den Text als «messerscharfe und kluge Kritik am Status Quo der Geschlechterverhältnisse im Theater». Haenni zeige, dass es in diesem Land der «FRAUENSTIMMRECHTS-EINFÜHRUNGSEXTREMVERSPÄTUNG» Zeit sei «für vielschichtige Figuren auf den grossen Bühnen der Theater». Zu lange hätten Schauspielerinnen sich umbringen lassen, sich selber umbringen oder, so Haenni, «mit so irren Augen» auf der Bühne herumlaufen müssen. 

Konkrete Literatur als ironische Pointe

Jetzt hat Julia Haenni einen Band mit «kiosktexten» veröffentlicht, von denen sie in der Vorbemerkung sagt, das seien «Texte, zu denen ich mich hab beauftragen lassen. Texte für den Moment, Gebrauchstexte, Bedürfnisbefriediger*innen, Konkrete Literatur.» Schon im ersten Abschnitt ihres Buches zeigt Haenni damit, wo sie steht: In der Tradition einer Literatur, die ihr aber nur noch eine ironische Pointe wert ist. 

1953 haben Eugen Gomringer, Diter Roth und Marcel Wyss in Bern die Zeitschrift «Spirale» gegründet. Diese Gründung gilt als Anfang jener «Konkreten Poesie», die bald international ausgestrahlt hat. Gomringers Text «Vom Vers zur Konstellation» (1954) gilt als eine Art Gründungsmanifest jener Literatur. Auf diese Tradition spielt Haenni an und ironisiert «Konkrete Literatur» gleichzeitig als Gebrauchsarbeiten für konkrete Situationen (wobei insbesondere der Text «der hall der hall e» sehr wohl an Konkrete Poesie erinnert).

Statt eines Verzeichnisses der Drucknachweise bietet das Buch deshalb eine Liste der Textaufträge. Ihr «Liebeshaiku» zum Beispiel ist eine «bestellung zum geburtstag des liebsten, privatperson in deutschland, befreundet mit der autorin». Den Text «hundertföifi» haben «2 anonyme personen» in Auftrag gegeben «für den hauseingang eines mietshauses in zürich city». Und die «wortidee für tattoo auf sehr weissem oberschenkel» war die Bestellung einer «privatperson, anonym». 

Neue Ähra, nicht nur im Stadttheater

Der Band versammelt nebst der Vorbemerkung von Haenni und einem Nachwort von Fadrina Arpagaus, Dramaturgin am Schauspielhaus Zürich, neunzehn Texte – die kürzesten bestehen aus wenigen Wörtern, der längste – «ä schwizergschicht» – umfasst 24 Seiten. Arpagaus schreibt, Haennis Texte würden nie behaupten, «perfekt zu sein, etwas stimmiges oder abgeschlossenes. stattdessen rasen und platzen sie voller offener fragen direkt ins universum. keine zeit zu beschönigen.» 

Weder Zeit zu beschönigen noch zu korrigieren, möchte man beifügen. Im letzten Stück, einem Prosatext mit dem Titel «Eine neue Ähra» – immerhin der «text für selbstvorstellung als hausautorin am konzert theater bern» – fehlen die Kommata gleich dutzendweise und «wüki» statt «würkli», «Kalsruhe» statt «Karlsruhe» oder «viaumau» statt viumau» erhöhen den literarischen Tiefgang des Textes nicht wirklich. Was will uns die Dichterin mit einer solchen Textdarstellung sagen (denn die edition taberna kritika, die das Buch herausgegeben hat, ist nicht für schludriges Korrektorat bekannt)?

Sicher: Spontaneität und Authentizität. Mag sein, Hänni hat diese Auftragsarbeit seinerzeit genau so abgeliefert. Wenn sie den Text allerdings zwei Jahre später unkorrigiert in ihr Buch rückt, erhält die Darstellung einen Nebensinn: Seht her, wie gut ich bin – obschon ich einen derart unfertigen Text abgegeben habe, haben die mich zur Hausautorin gemacht. 

Literatur als Subkultur

Schon klar: Zum neuen Geschlechterverhältnis gehört auch ein neues Selbstbewusstsein. Wenn da einer sagt, bei Kommas könne es um Leben und Tod gehen – etwa beim Diktum «Ich begnadige nicht hinrichten» –, dann ist das bloss eine Reminiszenz ans überwundene patriarchale Mittelalter. 

Drum andersherum: Mit Jahrgang 1988 gehört die Schriftstellerin Julia Haenni zur Generation der Digital Natives. Entsprechend schreibt sie Gebrauchstexte wie Posts für ihre Community. Mit einer solchen Schreibhaltung wird ein bestimmtes Publikum anvisiert: nicht das disperse des Buchmarkts, der die (zahlungsfähige und willige) «Öffentlichkeit» repräsentiert, sondern ein Publikum, das als subkulturelles Wir gedacht wird, eines, das sowieso weiss, wie es gemeint ist.

Ihr «kleines Best Of» solle daran erinnern, schreibt Haenni in der Vorbemerkung, «dass es Literatur braucht. Täglich und überall. Wie eine Kippe am Kiosk.» Ein schönes Bild: Literatur nicht als eine exklusive Ware, die in der Regel von akademisch Geschulten sanktioniert wird, sondern Spracharbeit für die konkrete Situation. Es geht nicht um die Zelebrierung von Tausch- und Gebrauchswert, um das Zigarettenpaket auf dem Ladentisch, es geht um die Kippe am Kiosk.

Buch oder Nichtbuch

An diesem Punkt gerät Julia Haenni allerdings in einen Widerspruch: Warum schiebt sie, so gesehen, ihre «kiosktexte» als Zigarettenpaket über den Ladentisch, statt sie als Kippensammlung herumliegen zu lassen? (Aber wie tut man das?)

Der Zwang zur Öffentlichkeit ist ein tabuisiertes Problem von Literatur, die nicht Mainstream sein will: Man kann sich literarisch noch so originell, noch so radikal gebärden, schliesslich wird man sich der Form unterziehen müssen, die Öffentlichkeit ermöglicht. Ohne Öffentlichkeit ist Literatur nichts als ein Hobby. Andersherum: Wer nichts als Kippen am Kiosk produziert, wird nie einen Literaturpreis kriegen. 

Das ist keine Kritik an Julia Haennis Buch, im Gegenteil. Die Art, wie sie ihre Texte präsentiert, inspiriert zum Nachdenken weit über die konkreten Texte hinaus.