«Das ist eine Revolution»

von Janine Schneider 12. Januar 2022

Der libanesische Filmkritiker Chafic Tabbara war als künstlerischer Co-Leiter für die Filmauswahl des Norient Filmfestivals verantwortlich, das in diesem Jahr zum elften Mal stattfindet. Wir haben mit ihm über die Rolle von Sound im aktuellen Filmschaffen, dem Zuhören der Stille und die Seele des Kinos gesprochen.

Chafic, wir führen dieses Interview über Zoom und du befindest dich gerade in deiner Wohnung in Beirut. Welche Geräusche und Klänge begleiten dich im Hintergrund?

Von draussen höre ich die Stadt, die allerdings an einem Samstag wie heute nicht besonders laut ist. Die Leute sitzen zuhause oder gehen raus in die Berge. Unter der Woche ist Beirut dagegen sehr laut und hektisch. Die Leute drehen durch mit all den Problemen im Moment. Aber irgendwie kommen wir zurecht – wir lieben Beirut einfach.

Diese Woche noch fliegst du nach Bern, wo du seit einem Jahr zusammen mit Rebecca Salvadori die künstlerische Leitung des Norient Filmfestivals übernommen hast.

Und ich freue mich sehr darauf, alle ausgewählten Filme nun mit dem Publikum teilen zu können und auf der grossen Leinwand zu sehen!

Zuvor hatte Thomas Burkhalter, der Gründer des Festivals, auch die künstlerische Leitung inne, nun arbeitet er mehr im Hintergrund. Wie bist du zu Norient gekommen?

Thomas hatte Rana Eid, eine befreundete libanesische Sound Designerin, gefragt, ob sie jemanden in Beirut kenne, der interessiert daran wäre, im Kurationsteam mitzuwirken. Ich kannte das Norient schon und hatte als Filmkritiker auch schon viele Filme an diesem Festival gesehen. Deshalb habe ich mich sofort dafür interessiert. Ich traf mich mit Thomas uns und wir haben uns auf Anhieb gut verstanden.

Die Entscheidung, kuratorische Macht gerade auch mit Akteur*innen ausserhalb Westeuropas zu teilen, war ein Anliegen des Norient Festivals. Ist das die Zukunft der Kuration?

Es ist nicht unbedingt die Zukunft der Kuration, aber vielleicht ist es die Seele von Norient. Norient ist nicht einfach irgendein Festival, das in Bern stattfindet. Schon unter der künstlerischen Leitung von Thomas hatte es Zweige in der ganzen Welt. Leute aus den verschiedensten Kulturen und Städten waren darin involviert und brachten ihre unterschiedlichen Hintergründe und Perspektiven mit ein. Das war seit Anfang an das Ziel von Norient.

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In deiner Arbeit als Filmjournalist und Filmkritiker schreibst du für verschiedene arabische Zeitschriften und reist an Filmfestivals in der ganzen Welt. Nun stehst du als künstlerischer Leiter zum ersten Mal auf der «anderen Seite» eines Festivals. Inwiefern hat das deine Sichtweise auf Filme verändert?

Es ist ein Unterschied, ob man einen Film als Filmkritiker schaut oder als künstlerischer Leiter. Als Filmkritiker zählt nur meine Meinung zum Film, und die muss ich mir relativ schnell machen, da ich an Filmfestivals manchmal vier bis fünf Filme täglich schaue. Als künstlerischer Leiter sehe ich den Film als Teil des Programms. Ich habe mehr Zeit, den Film auf mich wirken zu lassen und mir zu überlegen, wie er auf der grossen Leinwand aussehen, wie er aufgenommen werden würde und so fort. Ich überlege mir, ob ich das Publikum teilhaben lassen möchte. Denn im Kino geht es immer um die gemeinsame Erfahrung, darum, etwas mit anderen zu teilen. Und gleichzeitig habe ich versucht, den Film trotzdem als Einzelnes, als eine Einheit in sich zu betrachten, die mich packen muss.

Die Stille kann manchmal stärker sein als der Ton.

Du hast die eingesendeten Filme ausserdem mit einer internationalen Programmgruppe aus Indien, Grossbritannien und der Schweiz diskutiert. Wie seid ihr vorgegangen?

Wir haben dieses Jahr mehr als 250 Filme geschaut, um eine Auswahl für das Norient Festival treffen zu können. Ich habe eine Vorauswahl getroffen und diese mit den anderen diskutiert. Was uns wichtig war: Keine Kompromisse. Darunter hätte nur die Qualität der Filmauswahl gelitten. Schlussendlich war ich für die Filmauswahl verantwortlich und hatte das letzte Wort. Mein Ziel war es, die Filmauswahl des Norient Festivals breiter zu machen: Es sollte nicht nur um Filme gehen, die mit Musik zu tun haben, wie «Max Richter’s Sleep», sondern ebenso um Filme, wie zum Beispiel «Sound of Metal», «The Hell» oder «Flow», die über Sound als Sound sprechen. Alles was wir hören – seien es die Geräusche einer Stadt oder auch Lärm – ist schlussendlich Musik. Gleichzeitig wollte ich die Stille mehr thematisieren. Nach zwei Jahren Pandemie und Lockdown sind die Städte stiller geworden. Und die Stille kann manchmal stärker sein als der Ton. Gerade im Film «Sound of Metal» geht es schlussendlich mehr um die Stille als um den Sound. Die Stille wiegt schwerer.

Gab es unter den eingereichten Filmen auch welche, die im Hinblick auf das Festival gedreht wurden?

Die meisten nicht. Wir haben neben Low-Budget-Filmen auch grosse Filme, wie «Burning Casablanca», der in Venedig gezeigt wurde, oder «Sound of Metal», der letztes Jahr den Oscar für den besten Sound gewonnen hat. «Beirut: Traces of a City – a Pod Poem» wurde dagegen eigens für das Festival produziert.

Ich bin nicht auf der Suche nach Perfektion.

Was musste ein eingereichter Film mitbringen, um dich zu berühren?

Ein Grossteil der Filme wurde von jungen Regisseurinnen und Regisseuren gedreht, manchmal ist es ihr erster, manchmal der zweite Film. Deshalb sind die meisten der Filme fehlerhaft. Aber ich bin nicht auf der Suche nach Perfektion. Weder im Filmschaffen noch in der Kunst im Allgemeinen. Ich suche nach etwas Speziellem, das mich packt. Manchmal denke ich mir, ach das hättest du besser machen können, aber wenn der Regisseur etwas zu erzählen hat, wenn er oder sie sich selbst hinterfragt, dann möchte ich trotzdem weiterschauen. Kino ist schlussendlich halb Kunst und halb Leben. Der Film muss dieses Leben, muss unsere Welt irgendwie reflektieren, muss etwas mitzuteilen haben. Das merkt man in den ersten fünf oder zehn Minuten des Films.

Es gibt also im Umkehrschluss filmtechnisch perfekte Filme, die es trotzdem nicht schaffen, dich zu überzeugen.

Genau. Und dann gibt es noch Filme wie «Sound of Metal», die meiner Meinung nach eine Sound-Revolution gestartet haben. Es war das erste Mal, dass ein solcher Low-Budget-Film den Oscar für den besten Sound gewonnen hat. Nicolas Becker, verantwortlich für das Sound Design hat den Ton zu einem wahrhaftigen Akteur des Films gemacht. Jede Sekunde der Geräuschkulisse ist durchdacht. Und gleichzeitig wird uns die Stille gezeigt. Das machte den Film zu einem solchen Erfolg. Aber diese Entwicklung kann zurzeit generell im Filmschaffen beobachtet werden: Sound ist wichtiger geworden und wird schon von Beginn weg stärker ins Skript integriert.

Ton ist nicht nur ein Element des Films, es ist eine Kunst.

Welche Rolle spielte Sound bis anhin im Kino? Weshalb kam es jetzt zu dieser «Revolution»?

Eigentlich ist der Ton eine Revolution seit den Anfängen des Kinos. Als die ersten Filme mit Ton entstanden, war Charlie Chaplin richtiggehend empört. Er meinte, das Kino verliere seine einzigartige Ausdrucksweise. Alle zehn bis fünfzehn Jahre gibt es im Kino eine kleinere oder grössere Revolution. So gab es in den 70ern und 80ern in Hollywood einen Riesensprung in der Filmmontage. In den 90ern kamen Musikfilme auf. Nun ist die Zeit des Sounds angebrochen. Seit etwa zehn Jahren wird viel mehr über Sound nachgedacht. Ton ist nicht nur ein Element des Films, es ist eine Kunst. Alles, was du im Kino hörst, wurde im Postproduktionsstudio von Grund auf geschaffen: Schritte im Flur, das Klirren von Glas, die Atmosphäre, die Dialoge. Wir werden in den nächsten fünfzehn Jahren eine grosse Entwicklung in der Art und Weise sehen, wie Klänge, Geräusche und Töne im Film verwendet werden. Und diese Entwicklung kann auch am Norient an aktuellen Filmen beobachtet werden! So zum Beispiel am Film «Symphony of Noise», in dem dokumentiert wird, wie Matthew Herbert Alltagsgeräusche aufnahm und daraus Musik machte. Das ist eine Revolution.

Letztes Jahr konnte das Norient Filmfestival nur online durchgeführt werden. Thomas Burkhalter erklärte in einem Interview mit dem Bund, dass aufgrund der Pandemie weniger Dokumentarfilme produziert würden. Er meinte, es müsse sich zeigen, ob die Kreativität wettmachen könne, was der Virus zerstört habe. Hat sie das geschafft?

Ich würde sagen ja. Es gab im letzten Jahr viele unabhängige Low-Budget-Filme. Die Regisseurinnen und Regisseure haben sich wieder auf die Ursprünge des Kinos und des Storytellings besonnen und gemerkt: Wir brauchen nicht viele Leute, grosses Equipment oder unzählige Kameras – was wir brauchen, ist eine Kamera, guter Ton und eine Strassenecke. 1975 in Beirut, während des Bürgerkriegs, wurden viele Filme auf diese Weise produziert. Jocelyne Saab, eine meiner libanesischen Lieblingsregisseurinnen, ging damals einfach mit der Kamera in der Hand auf die Strasse und hat angefangen, mit den Menschen, mit den Kämpfern zu sprechen. Grossartige Filme. Das sind die Wurzeln des Kinos. Natürlich ist Kino auch Glamour: Wir brauchen grosse Blockbuster, wir brauchen den Oscar, den roten Teppich und Cannes. Die grossen Festivals sind wichtig und Geld zur Förderung des Films ist auch wichtig.

Im Kino geht es genauso um Unterhaltung wie auch um Glamour.

Aber Filme wie die von Jocelyne Saab sind doch oft näher an den Menschen, über die sie etwas erzählen wollen.

Klar, aber wir brauchen die grossen Filme. Über sie sprechen die Leute. Obwohl, gerade durch die Pandemie wurden mehr und vor allem vielfältigere Filme geschaut. Nicht im Kino, sondern zuhause auf Onlineplattformen. Gerade in den USA haben die Leute zum ersten Mal angefangen, auch nicht-synchronisierte Filme mit Untertiteln zu schauen. Dadurch konnten sie viel mehr Filme von ausserhalb des anglosächsischen Raumes entdecken. Das ist eine gute Entwicklung. Aber es hat natürlich nicht nur Vorteile, dass so viele Filme auf Onlineplattformen zur Verfügung stehen. Das Kino sollte nicht einem Supermarkt gleichen.

Wir dürfen den Zauber des Kinos nicht verlieren.

Auch in der Schweiz interessiert sich nur eine Minderheit für unabhängige Filmproduktionen und Festivals wie das Norient. Wie könnten mehr Leute erreicht werden? Und möchtet ihr das überhaupt?

Natürlich möchten wir ein breiteres Publikum erreichen. Ich möchte, dass mehr Leute, die sonst nur Blockbuster schauen, ans Festival kommen. Umgekehrt möchte ich aber auch, dass die, die ans Norient kommen, mehr grosse Filme schauen gehen. Ich kann nicht viel mit Leuten anfangen, die ein «Ich-schau-nur-Festival-Filme»-Ego pflegen. Nein! Im Kino geht es genauso um Unterhaltung wie auch um Glamour. Manchmal gehe ich ins Kino und möchte einfach mit der Popcorntüte in meiner Hand dort sitzen und gut unterhalten werden. Um diese zwei Welten miteinander zu verbinden, haben wir auch Filme wie «Sound of Metal» oder «Burning Casablanca» im Programm. Trotz ihrem Tempo werden sie dir nach der Aufführung in Erinnerung bleiben. Aber sie sind keine klassischen Art-House-Filme, wie die von Tarkowski, die keiner versteht. Wir sind mittlerweile an einem ganz anderen Punkt angelangt. Wir können nicht zur Art des Filmemachens im Stil von Tarkowski oder Kurosawa zurückgehen. Das Kino muss sich damit beschäftigen, was alles um uns herum in dieser beschleunigten Welt passiert. Was am wichtigsten ist: die Menschen zurück an Festivals und ins Kino zu bringen. Insbesondere die junge Generation, die Filme nur noch an Laptops oder auf dem Handy schaut. Das ist gefährlich – sie werden den Zauber des Kinos verlieren. Wie Pedro Almodovar einmal sagte: «Der Sessel muss immer kleiner sein als die Leinwand» – wir müssen uns demütig fühlen vor dem Film.