Als das «Schulheim Ried», das frühere «Knabenheim auf der Grube», 2013 geschlossen wurde, verabschiedeten sich der Stiftungsrat und die Leitung mit der Herausgabe eines Buches, das die Geschichte der Institution aufarbeitete und Perspektiven für die Zukunft aufzeigte. In der Einleitung entschuldigten sie sich bei den Jugendlichen, welche «auf der Grube» hatten leben müssen und dort «nicht das erfuhren, was ihnen zustand: Schutz, Wertschätzung, Wohlwollen, physische und psychische Unversehrtheit». Als Zeichen des Bedauerns erhielten alle Ehemaligen ein Exemplar des Buches geschenkt.
Ein ehemaliger Heimleiter, welcher der Institution von 2000-2005 vorgestanden hatte, war mit dieser historischen Darstellung nicht einverstanden. Er klagte im Jahre 2016, mehr als drei Jahre nach Erscheinen des Buches, gegen die Herausgeber und einen der beteiligten Autoren wegen angeblicher Verletzung seiner Persönlichkeit. Das Verfahren fand schon bei der Schlichtungsbehörde sein verdientes Ende, indem sich die Herausgeberschaft in einem gerichtlichen Vergleich verpflichtete, das Buch nicht mehr weiter zu vertreiben.
Die Kampagne des Heimleiters
Wie die «Berner Zeitung» im Juli dieses Jahres berichtete, liess es der Heimleiter dabei aber nicht bewenden. Er sammelte die Restauflage des Buches ein und brachte diese Exemplare eigenhändig zur Vernichtung in die Kehrichtverbrennung. Ausserdem verlangte er von mehreren Bibliotheken, die das Buch in ihren Beständen hielten, dass dieses nicht mehr ausgeliehen werden dürfe. Erstaunlicherweise kamen die Bibliotheken diesem Wunsch nach. Sie verzeichneten das Buch zwar weiterhin in ihren Katalogen, sperrten es aber für die Ausleihe.
Dadurch, dass der besagte Heimleiter sich öffentlich seiner Büchervernichtung rühmte und dabei auch noch gegen den Autor der historischen Darstellung und gegen die ehemalige Präsidentin des Stiftungsrats des «Schulheims Ried» polemisierte, machte er nun aber seinen zweifelhaften Erfolg wieder zunichte. So lancierten Ehemalige der Institution eine Petition, in welcher sie sich für eine Neuauflage des Buches einsetzen. Journal B sah in dieser Vernichtungsaktion ein gefährliches Präjudiz und stellte sich ihr entgegen, indem es das Buch über seine Webseite wieder digital zugänglich machte. Mehrere Zeitungen und auch das Regionaljournal Bern-Freiburg-Wallis berichteten ausführlich und mit unterschiedlichen Standpunkten über die Auseinandersetzung.
Angesichts dieser grossen öffentlichen Aufmerksamkeit entschieden sich nun die Schweizerische Nationalbibliothek und die Universitätsbibliothek Bern, dass das öffentliche Interesse am Zugang zum Buch das private Interesse des ehemaligen Heimleiters, dass das Buch nicht mehr verbreitet werde, bei weitem übersteige. Sie hoben deshalb die Verleihsperre wieder auf und gaben das Buch frei. Dieses kann ab sofort in beiden Bibliotheken wieder uneingeschränkt ausgeliehen werden.
Bibliotheken sind Dokumentationsstellen
Es kann dahin gestellt bleiben, ob es wirklich das grosse öffentliche Interesse war, welches die Bibliotheken zum Umdenken bewogen haben. Vielleicht sind sie ja auch einfach zur Einsicht gelangt, dass es offensichtlich nicht angeht, Bücher aus dem Verleih zu ziehen, weil deren Inhalt irgendeiner Privatperson nicht behagt. Wissenschaftliche Bibliotheken, also auch die Universitätsbibliothek Bern, haben nämlich die Pflicht, in ihrem Tätigkeitsbereich das ganze relevante Schrifttum zu dokumentieren und für die öffentliche und private Forschung zur Verfügung zu stellen. Die Nationalbibliothek ihrerseits hat laut Art. 2 des Gesetzes über die Schweizerische Nationalbibliothek die zentrale «Aufgabe, gedruckte oder auf anderen Informationsträgern gespeicherte Informationen, die einen Bezug zur Schweiz haben, zu sammeln, zu erschliessen, zu erhalten und zu vermitteln». Dass man da einzelne Werke wegsperrt, weil irgend jemand das wünscht, ist nicht vorgesehen. Die Bibliotheksleitungen sind daher auch nicht befugt, solche Entscheide zu fällen.
Natürlich kann auch Literatur verboten werden, z.B. weil sie pornografisch oder gewaltverherrlichend ist oder sonstwie gegen geltende Gesetze verstösst. Darüber haben aber Gerichte zu entscheiden, insbesondere Strafgerichte, und zwar aufgrund von Verfahren, in denen alle Betroffenen ihre Interessen geltend machen können. Eine Verwaltungsbehörde, und das ist die Leitung einer staatlichen Bibliothek, ist dazu nicht befugt. Umso beruhigender, dass die beiden Bibliotheken ihr unzulässiges Verleihverbot von sich aus wieder aufgehoben haben.