«Das Gruebe-Buch ist viel mehr als ein gewöhnliches Buch!»

von Willi Egloff 24. August 2020

Regula Mader leitete den Stiftungsrat des «Schulheim Ried» zum Zeitpunkt, als das Heim geschlossen wurde. Journal B sprach mit ihr über das Ende der Institution und über das «Gruebe»-Buch, das zum Abschied herausgegeben worden war.

Regula, Du kamst 2003 neu in den Stiftungsrat der «Gruebe». Welche Situation hast Du dort angetroffen?

Regula Mader: Es war ein Heim mit Optimierungspotential, das sich in einer schwierigen Situation befand. Das Heim und die beteiligten Menschen waren von der Brandstiftung, von den Vorwürfen wegen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch und vom soeben veröffentlichten Untersuchungsbericht sehr belastet und teilweise traumatisiert. Teilweise fehlte das fachliche Knowhow und es gab keine strategischen und konzeptionellen Grundlagen für die Entwicklung der Institution.

Und wie kam es dann zur Einsetzung eines neuen Leiters?

Die Aufsichtsbehörde hatte eine Verfügung erlassen, wonach der amtierende Heimleiter eine sozial- oder heilpädagogische Ausbildung benötige und diese sofort zu beginnen habe. Der Stiftungsrat hat die Situation mit Herrn Hofer besprochen, worauf dieser sich bereit erklärte, die geforderte Ausbildung ein Jahr später zu beginnen. Wir haben daraufhin die Verfügung der Aufsichtsbehörde angefochten und bei der Behörde die Erstreckung der gesetzten Frist um ein Jahr verlangt, was auch bewilligt wurde. Als das Jahr um war, eröffnete uns Herr Hofer, dass er die Ausbildung nun trotzdem nicht absolvieren könne und wolle. Da blieb dem Stiftungsrat keine andere Wahl, als das Arbeitsverhältnis aufzulösen.

Und wann fiel der Entscheid, das Schulheim ganz zu schliessen?

Zusammen mit dem neuen Leiter Bernhard Kuonen setzten wir eine umfangreiche Strategieentwicklung in Gang. Ziel war die gesellschaftliche Integration der Knaben. Sie sollten nicht mehr auf der Gruebe isoliert leben, dies war nicht mehr zeitgemäss, sondern sie sollten in einen Sozialraum integriert werden und unter normalisierten Bedingungen leben. Wir mussten daher runter vom Hügel und rein in die Quartiere. Dieses Ziel setzten wir mit einer dreistufigen Strategie um: Erstes Ziel war die Professionalisierung des Personals und die Erweiterung der Kompetenzen aller Beteiligten. Zweites Ziel war die Dezentralisierung, wofür wir geeignete Liegenschaften im Sozialraum Bern-West erwerben wollten. Die dritte Stufe bestand darin, Kooperationen mit geeigneten Partnerinstitutionen umzusetzen, was dann auch zur Fusion unserer Stiftung mit einer anderen Stiftung führte.

Welche Funktion hatte bei dieser Umorientierung das «Gruebe-Buch»?

Für Bernhard Kuonen und den Stiftungsrat war klar, dass wir die Gruebe-Geschichte aufarbeiten mussten und uns bei den Betroffenen entschuldigen wollten. Da damals schon klar war, dass wir den Standort Gruebe aufgeben würden, lag eine abschliessende Darstellung der Geschichte des Heims nahe. Wir setzten eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Bernhard Kuonen ein, welche das Konzept eines Buches erarbeitete, das wir allen erreichbaren Betroffenen schenken wollten. Es sollte bewusst nicht einfach die Geschichte des Heims darstellen, sondern auch Schilderungen der Gegenwart umfassen, und es sollte auch einen Ausblick auf das Neue enthalten. So enthält das Buch neben dem historischen Teil unter anderem auch zwei fiktive Geschichten und einen Fachartikel, der den Wandel von sozialpädagogischen Institutionen in dezentrale sozialräumliche Organisationen fordert.

Und was war das Ergebnis?

Ein in jeder Hinsicht schönes und berührendes Buch, auch ein sehr schön gestaltetes. Wir haben beim Erscheinen eine Vernissage im Saal des Heimes durchgeführt. Für mich war dies ein unvergessliches Ereignis. Ich habe selten so viele Menschen so bewegt gesehen, gestandene Männer haben geweint, ehemalige Gruebe-Buben, die alle tief berührt davon waren, dass jemand das Unrecht anerkannte, das ihnen angetan worden war, und dass sich jemand bei Ihnen entschuldigte. Ich hatte selber immer wieder Tränen in den Augen. Wir haben sehr viele Rückmeldungen erhalten, mündliche und schriftliche, und sie waren ausnahmslos positiv. Das Buch mit der Vernissage war ein würdiger Schlusspunkt unter die Geschichte des Schulheims im Ried, der ehemaligen «Gruebe».

Einer war darüber aber nicht so glücklich, nämlich der frühere Heimleiter. Wusstet Ihr das damals schon?

Nein, wir waren davon völlig überrascht. Wir veranstalteten im Anschluss an die Vernissage eine Lesung in der Münstergass-Buchhandlung. Fredi Lerch las aus seinem Text und ich habe an der Veranstaltung als Vertreterin des Stiftungsrates mitgewirkt. Im Publikum sass Herr Hofer mit seiner Tochter, und nach der Lesung nahm er viel Raum und erzählte, was im Buch angeblich alles falsch sei. Das hat mich schon damals überrascht, denn er hatte ja das Schulheim vor mehr als 8 Jahren verlassen. Seine Kritik ist auch unbegründet, denn Fredi Lerch hat die Geschichte des Heims durchwegs zutreffend und sehr spannend dargestellt.

Nun hat ja Herr Hofer die Restauflage des Buches offenbar vernichtet. Was hältst Du von einer Neuauflage?

Das ist eine ganz schwierige Frage. Das »Gruebe-Buch» ist ein wunderbares Buch. Sein Ziel war aber nicht eine Grossauflage für den Verkauf, sondern wir wollten die Geschichte des Heims aufarbeiten und uns bei denen entschuldigen, die dort gelitten hatten und denen dort Unrecht widerfahren war. Dieses Ziel haben wir erreicht, und das Buch hat damit seine Funktion erfüllt. Ich bin sehr dankbar, dass das Gruebe-Buch durch Journal B der Öffentlichkeit wieder zugängig gemacht worden ist.

Ich finde es toll, dass sich Ehemalige zusammen geschlossen haben und sich für eine Neuauflage einsetzen. Insofern hat der Zerstörungsakt von Herrn Hofer sehr viel Positives bewirkt. Eine Neuauflage müsste aber mehr sein, als eine Wiederholung des ersten Buches. Es sind ja seither doch viele Jahre gegangen, in welchen noch verschiedene andere Aspekte der administrativen Versorgung aufgearbeitet wurden. Eine Neuauflage entstünde daher in einem anderen Umfeld, und sie müsste in dieses Umfeld eingebettet sein und wohl auch eine neue Funktion erfüllen. Entscheidend für eine Neuauflage wäre aus meiner Sicht zudem, dass die Ehemaligen federführend sind und eine aktive Rolle einnehmen.