Für bürgerliche Medien scheinen sie nicht greifbare, amorphe Gebilde zu sein, hinter deren Anonymität sich die einzelnen Mitglieder verstecken. So zumindest wirkt die Berichterstattung über Kollektive oft, insbesondere, wenn es sich um aktivistische Kollektive handelt. Dabei ist es ganz einfach: Kollektive fällen Entscheide gemeinsam und konsensbasiert, entsprechend treten diese Gruppen geschlossen auf, Individuen sollen bewusst nicht im Zentrum stehen. Das hat nicht primär mit Anonymität zu tun und ist nicht weniger greifbar als manche Behördenstrukturen, wo oft eine einzelne Person durch bürokratische Prozesse entstandene Entscheide nach aussen vertreten muss.
Gerade in linken Kreisen erfreut sich die Organisationsform Kollektiv grosser Beliebtheit. So besteht etwa die Reitschule aus einzelnen Kollektiven, hinter politischen Aktionen stehen oft Kollektive und auch in Kunst und Kultur bezeichnen sich immer mehr Gruppierungen als Kollektiv. Das kommt nicht von ungefähr, denn die Idee ist eng mit der Geschichte der Arbeiter*innen-Bewegung verknüpft und passt mit ihren flachen Hierarchien und der solidarischen Grundhaltung zu einem linken Selbstverständnis.
Das Phänomen Kollektiv geht also über die gängigen Rechtsformen hinaus und kann von ihnen nicht komplett erfasst werden.
Wie diese Idee konkret umgesetzt und gelebt wird kann sich allerdings stark unterscheiden. Eine klare Definition, was ein Kollektiv ist und was nicht, gibt es nicht. Meist handelt es sich um eine Eigenbezeichnung, was die einzelnen Kollektive und deren Mitglieder genau darunter verstehen, ist nicht immer gleich. Dennoch lässt sich das Phänomen Kollektiv grob umreissen. Oder zumindest soll hier der Versuch gewagt werden.
Unterschiedliche Rechtsformen
Um das Phänomen Kollektiv besser zu verstehen, ist es vorerst hilfreich, es von ähnlichen oder gleichlautenden Begriffen zu unterscheiden. Denn in der Schweiz gibt es die Rechtsform des Kollektivs, beziehungsweise der Kollektivgesellschaft. Kollektivgesellschaften sind oft kleine Unternehmen und werden beispielsweise zur Ausübung von freiberuflicher Tätigkeit verwendet.
Alle Gesellschafter*innen haben in einer Kollektivgesellschaft grundsätzlich dasselbe Mitspracherecht – sofern dies in den Statuten nicht anders definiert ist – und haften solidarisch. Darin klingt zwar schon einiges an, was das Phänomen Kollektiv ausmacht, diese starre Rechtsform ist jedoch nicht deckungsgleich mit dem, was alles unter einem Kollektiv verstanden werden kann. Ausserdem beschränken sich Kollektivgesellschaften auf wirtschaftliche Tätigkeiten.
Ebenfalls eine klar definierte Rechtsform sind die Genossenschaften. Auch sie erfreuen sich in linken und alternativen Projekten einer grossen Beliebtheit, etwa beim Wohnraum. Denn das Ziel der Genossenschaft ist die gemeinsame Selbsthilfe und nicht Gewinnmaximierung.
Grundsätzlich können Kollektive als Genossenschaft organisiert sein. Doch gerade, weil die Genossenschaft eine klar definierte Rechtsform ist, bringt sie einige Bedingungen mit sich, was die Organisationsstruktur angeht. So müssen Genossenschaften in der Schweiz zwingend ein Exekutivorgan wie einen Vorstand haben. Für einige Kollektive ist das nicht vereinbar mit dem Grundsatz von basisdemokratischer Organisation und möglichst flachen Hierarchien.
Das Phänomen Kollektiv geht also über die gängigen Rechtsformen hinaus und kann von ihnen nicht komplett erfasst werden. Um sich dem Phänomen anzunähern lohnt es sich, die Geschichte der kollektiven Selbstverwaltung genauer zu betrachten.
Vom Arbeitskampf zum selbstverwalteten Betrieb
Die Idee von Kollektiven taucht in der Geschichte der Arbeiter*innen-Bewegung immer wieder auf. Dabei war stets das Konzept der selbstverwalteten Betriebe zentral. Von den Arbeiter*innen-Räten der Februarrevolution über die anarcho-syndikalistische Produktion in Katalonien während des spanischen Bürgerkriegs bis hin zu zahlreichen Fabrikbesetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Immer ging es darum, als Kollektiv die Produktion gemeinsam und demokratisch zu organisieren.
Dass Kollektive den Status Quo noch auf eine andere Weise herausfordern, zeigte sich während der Covid-Pandemie: Die Mitglieder des Sous-le-Pont-Rössli-Kollektivs erhielten zuerst keine Kurzarbeitsentschädigungen.
Diese in Arbeitskämpfen erprobte Form der Selbstverwaltung inspirierte im Zuge der 60er- und 70er-Jahre die Neuen Sozialen Bewegungen dazu, selbstverwaltete Betriebe zu gründen. Diese Betriebe nannten sich dann oft «Kollektiv». In der Schweiz fand diese Organisationsform besonders durch die Jugendbewegung der 80er-Jahre Verbreitung. Zahlreiche damals entstandene Kollektive bestehen bis heute erfolgreich, etwa die Druckerei in der Reitschule oder auch die WOZ, die sich seit ihrer Gründung als Kollektiv versteht.
Alle in dieser Zeit und danach entstandenen Kollektive eint der Fokus auf Selbstverwaltung, gleichberechtigte Mitbestimmung aller Mitglieder und flache Hierarchien. Massgebend sind nicht Individuen oder einzelne Gremien sondern stets das Kollektiv als Ganzes. Das mag zuweilen träge und anstrengend wirken. Vollversammlungen können sich in zähen Diskussionen verzetteln und bis sich ein Kollektiv zu einer gemeinsamen Haltung durchringen kann, vergeht oft einige Zeit.
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Doch genau in diesem Ausdiskutieren und der Suche nach einem Konsens liegt ein grosses Potential. Die Diskussionskultur in den Kollektiven ist deren Mitgliedern oft eine wichtige Schule, die angelernte Einstellungen und Sichtweisen verändert. Wer im kleinen lernt, Entscheidungen gemeinschaftlich und konsensorientiert zu treffen, kann sich eine basisdemokratisch organisierte Gesellschaft besser vorstellen.
Revolutionäre Zwischenräume
Dass Kollektive den Status Quo noch auf eine andere Weise herausfordern, zeigte sich während der Covid-Pandemie: Die Mitglieder des Sous-le-Pont-Rössli-Kollektivs erhielten zuerst keine Kurzarbeitsentschädigungen. Sie seien wegen der Organisationsstruktur in einer «arbeitgeberähnlichen Stellung», argumentierte die bernische Arbeitslosenkasse. Nach einem Einspruch des Kollektivs entschied das Verwaltungsgericht dann, dass die Mitglieder Anspruch auf die Entschädigungen haben.
Wer im kleinen lernt, Entscheidungen gemeinschaftlich und konsensorientiert zu treffen, kann sich eine basisdemokratisch organisierte Gesellschaft besser vorstellen.
Was für die Mitarbeiter*innen von Sous le Pont und Rössli zu Beginn ärgerlich war, fand doch noch ein gutes Ende. Das Urteil zeigte auf, dass das geltende Recht der Realität von kollektiv geführten Betreiben nicht gerecht wird und erforderte es, über die Kategorien von Arbeitgeber*in und Arbeitnehmer*in hinauszudenken.
Auch wenn viele der heutigen Kollektive nicht direkt aus Arbeitskämpfen entstanden sind und ihnen keine Enteignungen oder Fabrikbesetzungen vorausgegangen sind, so ist ihre blosse Existenz doch etwas Revolutionäres. Denn sie schaffen kleine Zwischenräume, die sich versuchen dem Einfluss des Kapitalismus und seiner Regeln so gut es geht zu entziehen und machen eine andere Realität denk- und greifbar.