«Das Geräusch der Schüsse werde ich niemals vergessen können»

von Simona Pfister 23. Juli 2013

Von Somalia nach Saudi Arabien bis in die Schweiz: Layla Omar erzählt von den schrecklichen Ereignissen, die sie und ihre Kinder um die halbe Welt jagten, und berichtet vom Tod ihres Sohnes, der sie auch heute noch verfolgt.

Sobald es ruhig ist, ist es wieder da: das Knattern des Sturmgewehrs, das Layla Omars Sohn getötet hat. Sieben Jahre sind es nun her, seit die Somalierin sich mit ihrer Tochter Aissa und ihrem Sohn im Keller versteckt hielt, weil sie ihren zweiten Ehemann mit einer bewaffneten Entourage zu ihrem Haus hatte kommen sehen. Als die Bande an die Türe klopfte, sprang der ältere Sohn Ahmed aus dem Versteck – denn er war derjenige, der üblicherweise die Gäste empfing. Ahmed rannte zum Eingang und öffnete den Männern die Türe, die ihn im nächsten Augenblick mit unzähligen Schüssen durchlöcherten.

Dabei hatte es der Ehemann gar nicht auf ihn abgesehen, den Sohn aus erster Ehe, sondern wollte den damals 3-Jährigen Said, den gemeinsamen Sohn, zu sich holen, erklärt Layla Omar unter Tränen. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in Bern und versucht, all die schrecklichen Erlebnisse in ihrem Kopf zu ordnen. Sie holt tief Luft und beginnt zu erzählen:

«Alles fing an, als ich mit 14 Jahren gegen meinen Willen mit einem älteren Mann verheiratet wurde.» Mit 16 bekam sie das erste Kind, den Sohn Ahmed, und weitere zwei Jahre später folgte die Geburt von Aissa. Als die beiden Kinder gerade mal drei und fünf Jahre alt waren, musste sich Layla bereits zum ersten Mal von ihnen trennen: Sie wurde nach Saudi Arabien geschickt, um dort für die Familie dringend benötigtes Geld zu verdienen. «Eine Frau aus dem Dorf nahm mich mit. Ich sollte für sie als Hausangestellte arbeiten.»

«Verkauft wie eine Kuh»

In Saudi Arabien angekommen, verkaufte die Nachbarin Layla an eine arabische Familie und reiste mit dem Geld weiter nach Kanada. Von nun an schuftete die junge Somalierin Tag und Nacht als Hausmädchen – acht Jahre lang. Manchmal bezahlte die Familie ihr einen Minimallohn, manchmal bekam sie gar kein Geld. Wenn Layla es wagte nach ihrem Gehalt zu fragen, drohte die Hausherrin ihr mit der Polizei. «Sie sagte immer nur, ich könne mich ja an die Behörden wenden. Weil ich mich illegal im Land aufhielt, hätte das für mich aber Gefängnis bedeutet.»

«Sie sagte immer nur, ich könne mich ja an die Behörden wenden. Weil ich mich illegal im Land aufhielt, hätte das für mich aber Gefängnis bedeutet.»

Layla Omar

Schliesslich beschloss Laylas Bruder, der auch nach Saudi Arabien gezogen war, seine Schwester mit einem einheimischen Mann zu verheiraten – angeblich um ihr endlich Papiere zu verschaffen. «In Wirklichkeit wollte er nur das Brautgeld einstreichen. Er hat mich verkauft, wie eine Kuh!», sagt die Somalierin rückblickend. Die nächsten zwei Jahre ging Layla durch die Hölle: ihr neuer Mann misshandelte und verprügelte sie. Noch heute trägt sie die Narben seiner glühenden Zigarettenstummel auf ihrem Bauch.

Operiert ohne das eigene Einverständnis

Im Jahr 2003, kurz nach der Heirat, wurde Layla schwanger mit Said. Als die Wehen einsetzten, weigerte sich ihr Mann zunächst, sie in ein Krankenhaus zu bringen und für die entstehenden Kosten aufzukommen. Erst nach langem Zögern willigte er schliesslich ein; doch die Warterei hatte zu Komplikationen geführt, sodass Layla notfallmässig operiert werden musste. Während sie unter Vollnarkose im Operationssaal lag, ordnete ihr Mann ohne ihr Wissen an, dass die Ärzte gleich auch die Eileiter seiner Frau durchtrennen sollten: Er wollte keine Kinder mehr.

Nach der Geburt erwachte Layla mit furchtbaren Schmerzen. Die Operation, von der sie gar nicht wusste, war nicht sauber vollzogen worden. Über Jahre ahnte sie nichts von der Infektion, die sich von diesem Zeitpunkt an langsam in ihrem Unterleib ausbreitete und sie immer kränker werden liess.

Auf die eine Flucht folgt sogleich die nächste

Nachdem Lalya mit dem gemeinsamen Sohn nach Hause zurückgekehrt war, schlug ihr Mann sie weiterhin und drohte immer wieder, ihr Said wegzunehmen. Als dieser drei Jahre alt wurde, beschloss Layla, nach Somalia zu ihrer Mutter und den älteren zwei Kindern zu fliehen. «Ich wollte meinen Sohn vor der Gewalt des Vaters bewahren», erklärt sie und umarmt Said, der neben ihr auf den Sofa sitzt und gebannt den Erzählungen seiner Mutter lauscht.

Im Juli 2006 erreichte Layla mit ihrem Sohn an der Hand das Elternhaus in Somalia. Endlich konnte sie auch Aissa und Ahmed wieder in die Arme schliessen und hatte für einen kurzen Moment alle Kinder bei sich vereint. Doch die Freude hielt nicht lange: Sie entdeckte ihren Mann, wie er sich dem Haus näherte. Er war gekommen, um seine Frau aus Rache zu töten und Said als Stammhalter seiner Familie mit nach Saudi Arabien zu nehmen.
Es folgt das Verstecken, das Klopfen an der Türe, der Lärm des Sturmgewehrs.

Als die bewaffnete Bande Layla und Said nicht finden konnte, zogen die Männer wieder ab. Im Hauseingang fand Layla nur noch den leblosen Körper ihres Sohnes Ahmed. Sie beschloss, Somalia so schnell wie möglich zu verlassen, um Said und Aissa in Sicherheit zu bringen. Eine Nachbarin, die alles beobachtet hatte, bot Layla an, sie und den jüngeren Sohn als ihre Kinder auszugeben und mit ihnen nach England zu reisen. Weil die Nachbarin nicht auch noch Aissa mit sich nehmen wollte, schickte Layla ihre Tochter schweren Herzens mit ihrer Tante nach Südafrika.

Von Somalia über Frankreich ins Krankenhaus in der Schweiz

Mit der Nachbarin flogen Layla und Said nach Frankreich, doch für die geplante Weiterreise nach England war die Somalierin bereits zu krank. Die Nachbarin fuhr Layla deshalb zu ihrer Schwester in die Schweiz, wo sie sich mit deren Versicherungskarte behandeln lassen sollte. Dort angekommen, entschied sich die Somalierin um: «Ich wollte nicht unter falschem Namen in ein Krankenhaus gehen und die Versicherung betrügen», erzählt sie. Stattdessen hätte sie sich an die Schweizer Polizei gewendet und ihnen alles erklärt.

Die Beamten brachten sie nach Vallorbe, wo sie als Asylsuchende registriert und anschliessend sofort in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Über drei Jahre nach der Operation in Saudi Arabien stellten die Schweizer Ärzte endlich fest, was Layla so lange gequält hatte. «Erst zu diesem Zeitpunkt habe ich von der Operation erfahren – und realisiert, dass ich keine Kinder mehr bekommen kann.»

Endlich Ruhe und ein lang ersehntes Wiedersehen

Nach der Behandlung im Spital wurden Layla und ihr Sohn Anfang Oktober 2006 ins Asylzentrum in Zollikofen verlegt. «Das ist das Erste, an das ich mich erinnern kann», meint der heute 10-jährige Said strahlend. «Ich hatte dort viele Freunde und habe viel gelernt!» Auch Layla begann sich nach einer Weile im Asylzentrum wohl zu fühlen. «Ich erinnere mich noch genau an die eine Nacht in Zollikofen, in der ich zum ersten Mal seit Jahren ein Gefühl von Ruhe hatte»“ Keine Angst, keine Schmerzen, kein Lärm von Maschinengewehren in den Ohren.

Das einzige, was Layla noch Sorgen bereitete, war das Wohlbefinden ihrer Tochter und ihrer Mutter. Während sie auf ihren Asylentscheid wartete, rief sie Bekannte auf der ganzen Welt an, um den Aufenthaltsort der beiden zu ermitteln. Über zwei Jahre nach dem letzten Wiedersehen hatte Layla Erfolg: Sie erfuhr im Jahr 2008, dass ihre Tochter in Südafrika von einer norwegischen Flüchtlingsorganisation aufgenommen und nach Norwegen in ein Mädchenheim gebracht worden war. Schon nach kurzer Zeit hatte die heute 21-Jährige norwegisch gelernt und sich in der neuen Umgebung integriert. «Ich war so froh, dass wir uns wieder gefunden hatten und es Aissa gut ging», erzählt Layla. Zuerst wollte Layla ihre Tochter zu sich in die Schweiz holen, doch diese fühlte sich in Norwegen derart zu Hause, dass sie entschied zu bleiben. Seit letztem Jahr geht Aissa nun zur Universität und vor einigen Wochen hat sie gar den norwegischen Pass erhalten. «Ich bin so stolz», sagt die Mutter strahlend.

Der Schweiz etwas zurückgeben

Layla selbst bekam im Juli 2010 einen positiven Asylentscheid. Die Behörden vermitteln ihr eine Wohnung in Bern und Said konnte in die lokale Primarschule eintreten. Im Herbst 2012 fand Layla auch ihre Mutter wieder: Diese war nach den Vorfällen in Somalia nach Syrien geflohen. Als es wegen des Konflikts auch dort zu gefährlich für sie war, nahm die 73-Jährige einen zweitägigen Fussmarsch bis zur türkischen Grenze auf sich, um sich dort registrieren zu lassen. Unter Vermittlung der Schweizer Botschaft in Ankara konnte Layla ihre Mutter schliesslich Anfang dieses Jahres zu sich in die Schweiz nachziehen. «Ich konnte unser Glück kaum fassen», kommentiert Layla.

Endlich wieder vereint lebt die Somalierin heute mit Said und ihrer Mutter in Bern. Der Sohn spricht schon fliessend Deutsch und hat in der Schule wegen seiner guten Noten den Übernamen «Schlaukopf» erhalten. Auch Layla will die Sprache ihrer neuen Heimat noch besser lernen, um endlich eine feste Stelle zu finden. Sie sei mit jeder Arbeit zufrieden, die sie bekommen könne, meint sie. «Dieses Land hat mir so viel gegeben. Nun will ich etwas zurückgeben», sagt Layla entschlossen.