Das Gefühl jener Jahre

von Christoph Reichenau 22. März 2023

Bernhard Gigers neuer Film «Berner Blühen» dreht sich um die Kunstszene von 1950 bis 1980 der Stadt Bern. Die Entdeckung eines anderen Zeitgefühls.

Am Anfang des Films steht die eingepackte Kunsthalle. Christo und Jeanne-Claude haben aus ihr zum 50. Geburtstag 1968 ein Kunstwerk gemacht. Der Fotoreporter Walter Nydegger fotografierte das frühe Werk des später weltbekannten Paars, im Hintergrund strebt das Münster in den blauen Himmel. Ein Blick auf Bern vor 55 Jahren. In einer anderen Zeit.

«Berner Blühen» heisst Bernhard Gigers Film. Alec von Graffenried, der Stadtpräsident, soll Giger, den langjährigen Journalisten und Leiter des Kornhausforums, nach der Vernissage der Meret-Oppenheim-Ausstellung im Kunstmuseum Bern dazu angeregt haben. Das trifft sicher zu, doch Giger – Fotograf, Filmer, offener Wanderer im politischen und kulturellen Bern – trug sich schon lange mit dem Gedanken. Wer das Schlussbild seines Films «Winterstadt» im Gedächtnis hat, in dem ein Helikopter um den Münsterturm kreist zum Song «Campari Soda» der Band Taxi; wer sich an Kurt Blums Fotografien der Berner Kunstszene erinnert, die Giger im Kornhaus ausgestellt hat – der oder die wünschte sich seit langem einen umfassenden Blick zurück: Um als Jüngere zu erkennen, wie es war in den legendären 50er, 60er und 70er Jahren. Und um sich als Ältere des eigenen Gedächtnisses zu vergewissern oder dieses in Frage stellen zu lassen.

Kunsthalle Bern, frühe 1970er-Jahre. (Foto: Bernhard Giger)
Kunsthalle Bern, frühe 1970er-Jahre. (Foto: Bernhard Giger)

Entstanden ist ein poetisches Dokument. Ein Dokument der oral history dank der Gespräche mit zahlreichen Figuren der damaligen Bewegung. So Franz und Maria Gertsch, Hans Haltmeyer, Marlies und Eberhard W. Kornfeld, Regula Linck, Marianne Vögeli, Gerhard Johann Lischka, Marianne Milani, Lydia und Christian Megert. Mittendrin die Lehrerin und Szenegängerin Barbara Zäch, die über ihr Dabeisein und ihre Erlebnisse plaudert. Mittendrin auch die «Falken»-Wirtin Angela Zoratti. Sie verkörpert die nicht wegdenkbare Szene, das «Pyrénée», den «Falken», das «Commerce», Orte des Seins, des Festens, des Überhöckelns.

Poesie durchwirkt die bewegten Bilder. Die Ateliers, die verwunschenen Häuser und Gärten, selbst die Büroräume wirken verzaubert, der Mitteltrakt des Atelier 5 im Kunstmuseum wird zeitweilig ein Laufsteg. Das Künstlerhaus an der Postgasse, von einer ungenannten Familie zur Verfügung gestellt und durch Marianne Vögeli verkörpert, ist eng, steil, roh, verwinkelt, ein Zeuge seiner selbst, bis heute ein Zeuge seiner Zeit.

Marianne Vögeli im Estrich im Künstlerhaus Postgasse 20, Bern. (Foto: Stephan Hermann)
Marianne Vögeli im Estrich im Künstlerhaus Postgasse 20, Bern. (Foto: Stephan Hermann)

Um dem Ablauf der Zeit einen Rhythmus zu geben, schiebt Bernhard Giger kleine historische Sequenzen ein. Sie machen das Zeitgefühl dingfest. Sie erlauben den Zuschauer*innen, in die damalige Welt und Wirklichkeit einzutauchen. Die Fotos von Albert Winkler, Margrit Baumann, Eugen Thierstein, Balthasar Burkhard, der auch als Kunst-Fotograf gewürdigt wird, und anderen werden so ineinander verwoben, dass sie einen Film im Film ergeben.

Ein poetisches Dokument also, eine Einladung in Geschichte einzutauchen, ist entstanden. Eintauchen, doch keine Auseinandersetzung mit jener Zeit und Szene, zu der Bernhard Giger seit 17 Zugang hatte, zu der er selbst gehörte. Er erlaubt sich und uns zurückzugehen und ein Gefühl für damals entwickeln zu können. Dies gelingt manchmal durch Bilder einzelner Werke. Dazu gehört die quasi aseptische Präsentation des «Schubladenmuseums» von Herbert Distel, eine bewegte Aufnahme von Franz Gertschs «Kranenburg» und eines Patty Smith-Bilds, eines Spiegel-Bilds von Margrit Jäggli.

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Bernhard Giger, wie gesagt, vergleicht nicht, wertet nicht. Von 1950 bis 1980 war Bern international im Gespräch, hier im Aufbruch, im Umbruch. «When attitudes become form», Harald Szeemanns berühmte Ausstellung in der Kunsthalle 1968 wird in Gigers Blick Teil einer ganzen Bewegung.

Es war anders, damals. War es besser? Die Frage ist müssig. Es gab keine Hochschule der Künste, keine zur Verfügung gestellten Ateliers, kein Zentrum wie der PROGR, keine gut dotierte Förderung durch Stadt und Kanton, erst Anfänge einer Stadtgalerie, die Stellung der Frauen lag weit hinter dem heutigen Stand zurück. Man machte einfach, teils mit grossen Würfen, teils im Trotzdem beharrlicher Kleinarbeit. Die Akteur*innen sind alt geworden, wichtige leben nicht mehr. Die Zeit vergeht. Auch oder gerade deswegen lohnt sich das Erlebnis, in das Gefühl dieser Zeit einzutauchen. Man weiss mehr und man stellt neue Fragen, wenn das Licht wieder angeht im Kino.

Vorstellungen im Kino REX ab 24. März.
Am Sonntag, 26. März, spricht Dani di Falco mit Bernhard Giger.