Das Fussballteam wird zur Familie

von Noah Pilloud 3. November 2023

Kino Mit «Lotus Sports Club» eröffnete das Queersicht Filmfestival am Donnerstagabend seine 27. Ausgabe. Der berührende Dokumentarfilm über ein kambodschanisches Fussballteam spricht spielerisch leicht eine Vielzahl grosser Themen an.

Bereits der Eingangsbereich des «Ciné ABC» im Breitenrain ist zum Bersten voll an diesem Donnerstagabend. Das queere Filmfestival «Queersicht» bringt wie jedes Jahr zahlreiche Menschen zusammen, um queeres Filmschaffen zu feiern.

Die Stimmung beim Apéro und später im Kinosaal erinnert ein wenig an ein Familientreffen. Es wurde spürbar, dass das Queersicht über sein Filmprogramm hinaus wirkt und eine wichtige Rolle für die queere Community in Bern einnimmt. Das Rahmenprogramm ermöglicht Diskussionen, Vernetzung und gemeinsame Momente der Freude.

Es geht natürlich ums Queersein, um Identität und Zuneigung und um Fussball.

In der Eröffnungsrede hob Sofia Fisch diese wichtige Funktion noch einmal besonders hervor. «Das Queersicht Filmfestival leistet nicht nur wichtige Sensibilisierungs- sondern auch Communityarbeit», sagte Fisch. Dass Sofia Fisch vom Organisationkomitee für die Eröffnungsrede ausgewählt wurde, ist kein Zufall. Fisch ist nonbinär und kandidierte jüngst bei der Juso für den Nationalrat. Sofia Fisch ist die perfekte Wahl für die Eröffnungsrede, weil das diesjährige Queersicht-Programm erstens einen Schwerpunkt auf Nonbinarität legt und zweitens, weil das Filmfestival schon immer politisch war.

Das Fussballteam als Safer Space

Eines der Hauptanliegen des Filmfestivals ist es, queeres Leben in vielen Facetten zu zeigen. Genau das tut auch der Eröffnungsfilm «Lotus Sports Club». Der Dokumentarfilm von Vanna Hem und Tommaso Colognese erzählt die Geschichte des U21-Frauenfussballteam in Kampong Chhnang, einer ländlichen Provinz im Zentrum Kambodschas.

Trainiert wird das Team von Coach Pa Vann. Dabei ist er mehr als nur Fussballtrainer. Es gelang ihm, das Team zu einem Safer Space für trans und lesbische Spieler*innen zu machen. Für viele von ihnen ist er eine Vaterfigur und für einige von ihnen bietet er buchstäblich ein Zuhause. Er bringt ihnen neben dem Fussballspielen handwerkliches Arbeiten und seine Werte bei. Und liebt seine Schützlinge, von denen manche keinen Kontakt mehr zu ihren biologischen Eltern haben, wie eigene Kinder.

Amas und Co-Regisseur Vanna Hem bei den Dreharbeiten. (Foto: Document Our History Now)

Fünf Jahre lang hat die Filmcrew das Team begleitet. Ohne den Stoff durch Montage gross künstlich in narratologische Schemata pressen zu wollen, erzählen der Film aus dem Alltag des Teams und dem Leben von Spieler*innen und Coach. Dabei verhandelt er beinahe beiläufig grosse Themen. Es geht natürlich ums Queersein, um Identität und Zuneigung und um Fussball. Doch der Film handelt auch von biologischen Familien und den gewählten Familien, die für viele queere Menschen so enorm wichtig sind. Er handelt von Geborgenheit und Selbstständigkeit und davon, was wir unseren Familien schuldig sind.

Diese Themen kommen beispielsweise zu tragen, als die zwei Teamkameraden Leak und Amas – beides trans Männer – Pa Vann verlassen, um in der Hauptstadt Phnom Phen Arbeit zu finden und selbstständig zu werden. Dort werden die beiden mit neuen Lebensentwürfen konfrontiert, sehen zum ersten Mal reiche Queers und träumen davon, selbst genügend Geld zu haben, um sich geschlechtsangleichende Operationen leisten zu können. Dabei sind sie immer wieder mit den Gedanken bei ihrem Team und Coach Pa Vann. Es geht um Gemeinschaft und Individualismus, um Erwartungen von allen Seiten.

Lost in Translation?

Durch seinen Erzählstil, der oft einfach Bilder sprechen lässt und sich häufig am Alltäglichen orientiert, lässt der Film viel Raum für Nuancen. Es stellt sich aber die Frage, wie viele sprachliche Nuancen durch die Übersetzung verloren gehen. Im Film wird durchgehend Khmer gesprochen, am Queersicht wurde er mit deutschen Untertiteln gezeigt.

Dadurch bleibt unklar, inwiefern die verwendeten Labels Eigenbezeichnungen der Protagonist*innen sind, oder ob dabei eurozentrische Kategorien auf ein Phänomen projiziert werden, das von diesen nicht hundertprozentig erfasst wird. Einen Hinweis darauf gibt ein Text am Ende des Abspanns. Leider ist dessen Einblendzeit etwas gar kurz, sodass der Schreibende ihn nicht in Gänze erfassen konnte.

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Jedenfalls gibt der Film für ein europäisches Publikum Anstoss, um über gewisse Kategorien und deren Universalitätsanspruch nachzudenken. Somit ist er ein gutes Zeugnis dafür, wie wichtig Perspektivenvielfalt und intersektionale Ansätze bei der Produktion queerer Theorie sind.

Ein gehaltvoller und doch leichter und vor allem berührender Eröffnungsfilm also. Der Auftakt ist gelungen, die 27. Ausgabe des Queersicht Filmfestivals lanciert. Das weitere Programm sieht eben so vielversprechend aus.

Das Queersicht Filmfestival findet noch bis zum Mi, 8. November statt. Zum Programm geht es hier.
 
Der Film «Lotus Sports Club» wird ein weiteres Mal am Di, 7. November um 18 Uhr im Kellerkino gezeigt.