Das Eigentliche kommt nicht vor

von Christoph Reichenau 16. Januar 2020

Die Ausstellung «the swiss prison photo project», die das Polit-Forum Bern im Käfigturm zeigt, will Eindrücke vermitteln vom Alltag, von den Lebens-, Arbeits- und Freizeitbereichen gefangener Menschen. Das ist verdienstvoll, doch bleiben wichtige Fragen offen.

Zäune, gekrönt von NATO-Draht, Fenster mit diskreten Gitterstäben, lange Gänge, leere Hallen mit unbenutzten Sportgeräten. Und immer wieder Zellen. Einige Gebäude haben den Backstein-Charme ehemaliger Fabriken. Andere sind neu, aus Beton, in neutraler Architektur. Wüsste man nicht, wozu die Häuser dienen, sie könnten jeglichen Zweck erfüllen in einer bürokratisch-gewerblichen Welt. Nur eine Anlage sticht heraus durch ihren typischen Zentralbau mit den davon strahlenförmig ausgehenden langen Bauteilen.

Unsichtbar

Es sind Gefängnisse, Orte, in denen Menschen leben, die nicht freiwillig dort sind. Sie sind inhaftiert, während eine Strafuntersuchung läuft. Oder an ihnen wird, vom Gericht verfügt, eine therapeutische Massnahme vollzogen. Oder sie verbüssen eine Freiheitsstrafe. Oder sie sind verwahrt, in Unfreiheit, um uns alle vor ihnen zu schützen, auf Zeit oder auf Dauer.

Die Menschen, um die es geht, bleiben in der Ausstellung auf den Fotografien weitgehend unsichtbar. Sie haben kein Gesicht; bestenfalls sieht man einzelne von hinten. Trotz ihrer Abwesenheit spürt man sie an den Spuren, die sie hinterlassen haben: Poster an den Zellenwänden, ungemachte Betten, umher liegende Turnschuhe, Lebensmittel und Alltagsgegenstände auf den Tischen. Auf einer Aufnahme sind eingewiesene Männer bei der Gartenarbeit zu sehen.

Die wenigen auf den Fotos sichtbaren Personen arbeiten «im Strafvollzug». Es sind Aufseher und andere Mitarbeiter etwa bei der Essensausgabe oder beim Verteilen von Medikamenten; nur einmal ist eine Mitarbeiterin in ihrer Funktion als Krankenschwester abgebildet.

Erkundung

Die Ausstellung ist zweigeteilt. Der eine Teil zieht sich über zwei Stockwerke des Käfigturms. Hier geben grossformatige Fotografien an Stellwänden Einblicke in 25 Gefängnisse aus allen Landesteilen.

Der zweite Teil besteht aus einer Projektion im Treppenaufgang zum Dachgeschoss. Der Foto-Loop nimmt uns mit auf Erkundung. Fast an jedes Sujet tastet sich die Kamera mit drei oder mehr «Schüssen» heran – neugierig, unsicher, unverschämt. Das Objektiv will immer noch mehr «sehen». Auf uns wirkt diese Art des Fotografierens fahrig, erst auf der Suche nach dem richtigen Bild. Sie erscheint aber auch zudringlich, voyeuristisch, gierig nach einem Geheimnis. Es kommt uns vor, der Fotograf erkunde die menschenleeren Räume wie ein Dieb, der Eindrücke stiehlt hinter dem Rücken und ohne Wissen der Eingewiesenen.

Männerwelt ohne Frauen

Um die Eingewiesenen geht es aber. Um die Menschen, die auf Zeit eine Zelle bewohnen müssen, darin leben, in den Werkräumen arbeiten, in Freizeiträumen sich bewegen, sich bilden, sich unterhalten müssen. Ist die Darstellung vom Fotografen so gewollt? Bildet sie eine implizite Kritik am «Abschieben» der Gefangenen aus der Mitte der Gesellschaft – aus den Augen, aus dem Sinn? Dienen die menschenleeren Fotografien dem Persönlichkeitsschutz der Inhaftierten? Oder sollen sie die Trostlosigkeit des Freiheitsentzugs steigern, in dem es materiell an nichts zu fehlen scheint – und doch an allem fehlt: an Wärme, Anteilnahme, Beziehungen? Hier stösst die fotografische Perspektive, hauptsächlich auf leere Räume zu fokussieren, an ihre Grenze. Denn dadurch bleiben auch die Gemeinschaftsgeflechte, die in Gefängnissen durchaus entstehen können, im Dunkeln.

Hinzu kommt: Frauen im Justizvollzug werden nicht abgebildet. Die Ausnahme bildet die Aufnahme einer Frau in Ausschaffungshaft. Unverständlich, weshalb der Justizvollzugsanstalt Hindelbank in der Ausstellung kein Platz eingeräumt wird. Zu sehen ist eine Männerwelt. Keine Chance, sich mit den geschlechterspezifischen Charakteristika im Strafvollzug auseinanderzusetzen. Nun trifft es zwar zu, dass im Strafvollzug Männer die überwiegende Mehrheit ausmachen. Doch es gibt Frauen in diesem besonderen Bereich unserer Gesellschaft; es gibt sie mit ihren spezifischen Geschichten, ihren spezifischen Orten, ihren spezifischen Bedürfnissen – die sich auch räumlich zeigen, etwa im Fall der Mutter-Kind-Abteilung. Den Vollzug an Frauen nicht zu beachten, heisst ihn als unwichtig einzuschätzen.

Was erfährt man vom Strafvollzug durch die Ausstellung?

Die Ausstellung ermöglicht Einblicke in Innen- und Aussenräume von Gefängnissen und Ausblicke aus diesen. Die Orte und Räume wirken unwirklich, unpersönlich, unecht, anonym, leer von Leben. Man sieht in eine ansonsten weitgehend abgeschirmte Welt hinter Mauern und Gittern. Im Zentrum dieser Welt ist die Zelle, das Zimmer, in dem sich der Gefangene zumindest ein bisschen persönlich einrichten kann. Die Zellen wirken auf den Fotos allerdings kaum gemütlich, eher steril und schäbig, weit weg von einem auch temporären Zuhause; eher eine vorübergehende, keinen Aufwand verdienende Bleibe von Nomaden im eigenen Leben.

In dieser Welt bemühen sich professionelle Betreuende mit den Eingewiesenen um deren Resozialisierung. Konkret um deren Rückkehr in die Gesellschaft, die Familie, die Arbeitswelt mit dem Ziel, «nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten», wie man sagt. Sich selbst und den eigenen Platz in der Welt finden – darum geht es im Straf- und Massnahmenvollzug. Es ist eine gemeinsame Anstrengung der Betreuenden und der Eingewiesenen.

Wenn die Ausstellung die betroffenen Menschen ausblendet, dann zeigt sie das Eigentliche – die Eigentlichen – nicht. Dadurch ist der versprochene Einblick schmal und so verfehlt das «swiss prison photo project» sein Ziel. Es zeigt den Besuchenden kein vorurteilsfreies Abbild der hiesigen Gefängniswelten; es scheitert an einer teils klischeebelasteten Inszenierung. Das ist schade. Hoffentlich können die zahlreichen Begleitveranstaltungen dieses leere Feld zumindest teilweise füllen. Dies gilt erst recht für die inhaftierten Frauen, deren wichtigster Vollzugsort, wie erwähnt, schon gar nicht vorkommt. 

Gespräch mit Thomas Göttin

Im Gespräch mit Thomas Göttin erläutert der Leiter des Politforums Bern, der Käfigturm sei nicht eigentlich ein Ort für Ausstellungen, die an sich ein Thema erschöpfend behandeln. Dies sei auch nicht die Mission des Politforums, ausserdem fehle das Budget. Hier dienten Ausstellungen vorwiegend der visuellen Einführung in ein Thema, das dann mit Führungen, Referaten, Podiumsdiskussionen – etwa 50 im Jahr – vertieft werde; im Fall des «swiss prison photo project» auch mit einer Filmreihe im Kino Rex.  

Das «swiss prison photo project» liege, so gesehen, auf der Linie des Politforums. Wie der Titel sage, stünden die Gefängnisse im Vordergrund. Dies in der Absicht, die Orte, die Bauten, die Räume zu zeigen, ihre Atmosphäre und ihre Ausstattung. Denn gerade bei neueren Gebäuden sei – anders als bei der Strafanstalt Lenzburg – der der Zweck von aussen nicht ohne weiteres erkennbar. Von Interesse sei es, die räumlichen Bedingungen des Straf- und Massnahmenvollzugs erkenn- und vergleichbar zu machen – einem auf die Architektur bezogenen Interesse folgend. Im übrigen hätten Bilder mit inhaftierten Personen wohl «gestellt» gewirkt und somit auch keine authentischen Eindrücke vermittelt. Ganz abgesehen vom Persönlichkeitsschutz und den Auflagen der Gefängnisleitungen. Deshalb fehlten Bilder von Insassinnen und Insassen bewusst.

Das Fehlen der JVA Hindelbank und die fast vollständige Abwesenheit des Vollzugs an Frauen ist für Thomas Göttin ein Versäumnis, erklärbar mit dem statistisch sehr geringen Anteil von Frauen an der Gesamtheit der eingewiesenen Personen und Anstalten. In den Begleitveranstaltungen würden indes die Besonderheit des Straf- und Massnahmenvollzugs an Frauen zur Diskussion gestellt.

Fazit

Es kommt entscheidend darauf an, mit welchen Erwartungen man die Ausstellung besucht. Erhofft man Einblick – und Einsicht – in den Straf- und Massnahmenvollzug, für den die «swiss prisons» die räumlichen Bedingungen bieten, wird man Manches vermissen, insbesondere Bilder von Menschen und von der Stimmung in der Zeit ohne Freiheit. Begrenzt man die Aussage der Fotos auf das Räumlich-Architektonische und die Bedeutung der Ausstellung auf ihre Funktion als Einführung in das allgemeine Thema, das anhand anderer Anlässe behandelt wird, kann man sich mit den Mängeln abfinden. Ganz zufrieden wird man angesichts der grossen Bedeutung, die den vielen Fotos zukommt, allerdings kaum sein. Dennoch erfüllt die Ausstellung einen wichtigen Zweck: Sie erlaubt einen Blick hinter Mauern, Gitter, Zäune – und damit in einen Bereich unserer Gesellschaft, den wir noch so gern verdrängen.