Das bunte Leben in den Altstadtkellern

von Barbara Büttner 11. November 2014

Den Reiz der Unteren Altstadt machen nicht zuletzt ihre Keller aus: unterirdischen Ladenlokale, Bars, Cafés, Ateliers, Galerien, Theater, Wein- oder Partykeller. Das ist heute so – und das war früher nicht anders.

Zu einem Haus gehört ein Keller, zumindest in unseren Breitengraden. Schon in der Frühzeit Berns waren die Häuser unterkellert. Einzelne Keller aus jener Zeit haben bis heute überdauert, etwa die aus dem 13. Jahrhundert stammenden Keller an der Kramgasse 4 oder der Gerechtigkeitsgasse 71. Letzterer gehörte zum Stammhaus der Herren von Schwarzenburg, jenem Haus, in dem später der Stadtschreiber Peter Cyro zusammen mit dem schräg gegenüber wohnenden Künstler und späteren Politiker Niklaus Manuel, genannt Deutsch, die Reformation in Bern vorantrieb.

Neben dem Alter haben diese beiden Keller noch eine weitere Gemeinsamkeit. Beide dienten im 20. Jahrhundert lange Jahre als Kühlräume, der eine für die Metzgerei Rentsch, der andere für die Metzgerei Sterchi.

Der Hoferplan: Die Vermessung der Keller

Eine grössere Sensibilisierung gegenüber den Kellerräumen setzte mit dem «Hoferplan» ein. Unter der wissenschaftlichen Leitung des Berner Kunsthistorikers Paul Hofer wurde zwischen 1978 und 1980 der Kellerbestand der Altstadt im ersten und einzigen Kellerplan systematisch erfasst, im Massstab 1 zu 200. Ein Team, das zum Teil aus arbeitslosen Fachkräften bestand, hatte dafür in 14’000 Arbeitsstunden in 750 Altstadthäusern rund 1900 Keller vermessen sowie ein separates Inventar über die architektonischen Besonderheiten der einzelnen Keller erstellt: Beschaffenheit und Stärke des Mauerwerks zum Beispiel, Gewölbeform, Bodenbeläge, Treppen und Türen, die Verzierungen.

Alles wurde sorgsam abgezeichnet und dokumentiert und dient seither der Denkmalpflege als Grundlage für ihr Inventar schützenswerter Altstadtkeller, das weiterer Verwüstung des Untergrunds Einhalt gebieten soll.

Der «Bernschuh» – Vorläufer der DIN-Norm

Die Vermessung brachte unter anderem ans Tageslicht, dass etliche der alten Keller in der Unteren Altstadt gleich tief sind, etwa 8,8 Meter – oder 30 «Bernschuh», wie das bis ins 19. Jahrhundert gebräuchliche Längenmass der Stadt hiess, das sich am Regelmass der Mutter aller Zähringerstädte, an Freiburg im Breisgau, orientierte. Auch wenn ein Freiburger Fuss ein wenig länger war als ein bernischer.

Ein Freiburger Fuss war ein wenig länger als ein Berner.

Barbara Büttner

Das sind die Merkmale des typischen Altstadtkellers: Er ist nur von der Gasse her durch die Falltür und über eine steile Steintreppe zugänglich. Der Boden besteht aus Naturstein- oder Tonplatten oder einer Pflästerung aus behauenen und unbehauenen Steinen. Die Wände sind aus Sand-, Kiesel-, Bollen- oder Bruchsteinen gemauert, die Hohlräume oft mit Bauschutt ausgefüllt.

Die Decke ist ursprünglich eine Holzbalkenlage, die auf vorspringenden sogenannten Kragsteinen aufliegt. Diese flachen Holzdecken werden im 17./18. Jahrhundert meist durch jene Deckenform ersetzt, die noch heute in fast allen Kellern zu sehen ist: Die zusätzlichen Raum schaffende runde Backsteindecke, die sogenannte Backsteintonne, die jeden Keller zum Gewölbe werden lässt.

Weinseliges Bern

Über die Nutzung der frühen Kellerräume ist nichts bekannt. Wahrscheinlich fristeten sie ein Leben im Verborgenen, ein Kellerdasein eben. Ab wann die Altstadtkeller nicht mehr nur zur privaten Lagerung von Vorräten aller Art genutzt wurden, sondern auch als Orte der Geselligkeit, als Kellerschenken – auch das lässt sich nicht genau festmachen.

Fest steht: Im Mittelalter tranken die Berner den Wein gleich literweise. In den Spitälern wurden Kranke vor medizinischen Eingriffen mit dem Rebensaft narkotisiert. Wein gab es ja genug – erst recht nach der Eroberung der Waadt im 16. Jahrhundert. 1719, kurz nach dem Bau des Kornhauses, soll das geflügelte Wort entstanden sein: Venedig ist auf Wasser gebaut, die Stadt Bern aber auf Wein. Von ungefähr kam das nicht, lagerten doch allein im Kornhaus in über 50 gewaltigen Fässern etwa 650’000 Liter Staatswein, der von der Regierung als Zahlungsmittel benutzt wurde.

Die Weinschenken der Patrizier

Der Weinhandel und -ausschank war das ausschliessliche Privileg der Patrizier, die vielfach selbst im Besitz grosser Rebberge am Bielersee, im Kanton Aargau oder eben in der Waadt waren. Nur sie durften ihren Wein in ihren eigenen Kellern ausschenken. Die Einrichtung dieser Kellerwirtschaften war spartanisch, neben den Weinfässern gab es ein paar hölzerne Tische und Bänke, zu essen gabs nur kalt. Der Wein war billig, und so wurde wacker und lustvoll gezecht. Zur Freude der burgerlichen Besitzer, die ihr Geld mehrten, und zur Freude der Regierung, die die Weinsteuer, das Ohmgeld, kassierte.

Doch natürlich gab es auch die Schattenseiten. Jene kleinen Leute, die ihren kargen Lohn in den Kellern vertranken und damit ihre Familien weiter ins Elend stürzten – und natürlich wurde infolge des doch nicht unerheblichen Alkoholkonsums auch immer wieder gegen die herrschende Wohlanständigkeit verstossen.

Lukrative Doppelmoral

Was zu Ärger führte, nicht nur mit Polizei und Geistlichkeit, und die patrizischen Kellereigner zu einer politischen Doppelstrategie bewog, die der Archivbeamte und Mitglied des Historischen Vereins des Kantons Bern, Dr. phil Adolf Lechner, 1909 folgendermassen kommentierte: «So erliessen dieselben Herren, denen die Keller zugehörten, oder doch deren wohledelgeborene Familienzugehörigen und Anverwandten, die eben am Staatsruder sassen, scharfe Verdikte gegen die saufwütigen Untertanen».

«So erliessen dieselben Herren, denen die Keller zugehörten, scharfe Verdikte gegen die saufwütigen Untertanen.»

Adolf Lechner

Was die gleichen wohledelgeborenen Kellerwirte aber nicht daran hinderte, sich 1737 und 1739 ihre Ausschankprivilegien bestätigen und sogar noch ausweiten zu lassen. Was oben im Rathaus beschlossen wurde, kümmerte unten im Keller offenbar niemanden mehr. Rund 200 dieser Keller soll es in der Hochzeit der Kellerwirtschaften im 18. Jahrhundert in der Stadt Bern gegeben haben. Dazu kamen noch Tavernen, Pinten, Speise- und Caffeewirtschaften – das alles in einer Stadt, die damals gerade einmal 12’000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte.

Der langsame Tod der Kellerwirtschaften

Doch mit dem Ende des Ancien Régimes war Schluss mit lustig. Die neue Obrigkeit griff durch und erliess von 1804 an immer neue Vorschriften, beschränkte die Öffnungszeiten, erschwerte und verteuerte die Konzessionen und stellte die Wirtschaften ganz allgemein unter eine schärfere Polizeiaufsicht. Dennoch weisen die Zahlen der 1836 bis 39 durchgeführten Wirtschaftskontrolle noch 139 Kellerwirtschaften in der Stadt aus, 66 davon lagen allein im «grünen Quartier» zwischen Zytglogge und Kreuzgasse.

Doch der anhaltende behördliche Druck wie auch der beginnende intensive Kampf gegen den Alkoholismus setzten den Kellerwirtschaften immer mehr zu. Nur zwei sollten schlussendlich dann auch noch die strengen Polizeivorschriften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überdauern: Der Kornhauskeller, der 1803 schon als Magazin und Ausschankkeller verpachtet wurde, und der Klötzlikeller – jene Kellerwirtschaft an der Gerechtigkeitsgasse 62, die 1635 erstmals erwähnt und 1847 von einem Bürgerlichen gekauft wurde, vom Konditormeister Niklaus Klötzli.

Der Anlikerkeller

Die Keller der Unteren Altstadt versanken in der Folge in einen jahrzehntelangen Dornröschenschlaf, aus dem sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg langsam wieder erwachen sollten. Einer der ersten Keller, der wieder zum öffentlichen Raum wurde, befand sich an der Gerechtigkeitsgasse 73. 1948 hatte Gottfried Anliker das Haus erworben – und bereits am 28. August gleichen Jahrs fand anlässlich der Herbstwoche die erste Ausstellung statt, in der Künstler aus der Unteren Altstadt ihre Werke zeigten.

Im Monatstakt folgten weitere Ausstellungen mit zeitgenössischen Künstlern wie dem Berner Maler Martin Lauterburg, dem Amerikaner Gordon Mallet Mac Couch, einem Mitbegründer der 1924 in Ascona gegründeten Künstlergruppe «Der Grosse Bär» um die russische Malerin Marianne von Werefkin oder dem Berner Franz Fedier, einem der bedeutendsten Vertreter der abstrakten Malerei in der Schweiz. Die Spezialität des Kellers: Der Künstler musste seine Arbeiten selbst verkaufen und die Ausstellung betreuen. Dafür zahlte er nur eine «Kellermiete». Was eine Chance gerade auch für junge Künstler war.

Hunderte weitere Ausstellungen sollten bis zur Schliessung der Galerie im Jahr 2000 folgen, organisiert von Gottlieb Anlikers Sohn, dem Architekten Christian Anliker und seiner Frau Elisabeth. Dieser Ausstellungskeller schrieb aber auch Theatergeschichte, schlug doch dort 1948 die Geburtsstunde der Altstadt-Kellertheater.

Das Aufblühen der Subkultur

Anfang der 50er-Jahre begann im Untergrund der Berner Altstadt ein gehöriges Grummeln. Widerstand regte sich gegen die Kalte-Kriegs-Ideologien und die Enge der Geistigen Landesverteidigung. Oder, wie es der Berner Journalist Fredi Lerch formulierte: «In einer Welt, in der jede Kreativität Regelbruch ist, ersteht hier eine kleine Welt, in der jeder Regelbruch als Kreativität gefeiert wird.» Nicht nur die Kellertheater spielten gegen den bleiernen Zeitgeist an. Mehr und mehr Galerien öffneten und stellten junge, avantgardistische Künstler aus.

Anfang der 50er-Jahre begann im Untergrund der Berner Altstadt ein gehöriges Grummeln.

Barbara Büttner

Im Keller an der Junkerngasse 1 öffnete 1954 der Jazzkeller «Hot House». Ende der 50er-Jahre wurde der Keller auf Initiative des Plastikers und Malers Walter «Pips» Vögeli zu einer Art Privatclub für Szenegänger, Künstler und Wissenschaftler. Geöffnet hatte der Club jeweils erst nach Beizenschluss des «Commerce» um halb zwölf Uhr. Barkeeper war, so wird erzählt, Vögelis Künstlerkollege, der heute international bekannte Plastiker und Objektkünstler Christian Megert. Eine Bewilligung gab es offenbar nicht – und auch keine Sperrstunde.1962 schloss die Gewerbepolizei den Keller und Megert wurde wegen unerlaubten Wirtens verurteilt.

Die Nonkonformisten vom «Kerzenkreis»

Zu diesem Zeitpunkt war die Untere Altstadt schon längst zu einem Treffpunkt der Nonkonformisten geworden. Mit dazu beigetragen haben auch private Diskussionszirkel: Der vom Reformpädagogen Fritz Jean Begert (1907-1984) initiierte «Kerzenkreis» etwa, der von März 1955 an immer mittwochs stattfand. Die Mitglieder trafen sich in Altstadtwohnungen und -kellern, lasen aus eigenen Werken, diskutierten über die panidealistische Lehre des österreichischen Kulturpsychologen Rudolf Maria Holzapfel, über Literatur und Kunst – und über «echte Volkskultur», die sie als Gegenentwurf zur damaligen Fortschritts- und Technologiegläubigkeit sahen.

Ein engagierter Mitdiskutant war der spätere Schriftsteller und Mythenforscher Sergius Golowin, damals noch Bibliotheksassistent an der Berner Stadt- und Universitätsbibliothek. Eine Gruppe um Golowin und den Berner Kulturjournalisten René Neuenschwander spaltete sich Ende der 50er-Jahre vom «Kerzenkreis» ab – und gründete ihren eigenen Diskussionszirkel, den «Tägelleist». Mit ähnlicher Zielsetzung zunächst wie der Kerzenkreis – aber ohne Begert.

Vom Podium Junkerngasse 37 zur Junkere 37

1961 mieteten der junge Schauspieler Paul Niederhauser und seine Frau Heidi den Keller an der Junkerngasse 37 für seine Schauspielauftritte, aber auch als Bühne für jungen Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Im «Podium Junkerngasse 37» waren «Kerzenkreis» wie «Tägelleist» zu Gast. 1964 übernahmen dann Franz Gertsch, Sergius Golowin, Niklaus von Steiger und Zeno Zürcher vom «Tägelleist» den Keller, tauften ihn um in «Junkere 37» und führten dort wöchentliche Veranstaltungen durch. Ein «literarisches Laboratorium» wolle man sein, hatte Sergius Golowin in der Einladung zur ersten Veranstaltung geschrieben.

Die Liste der Referenten und Gäste (Referentinnen gab es erstaunlicherweise fast keine) ist schier endlos, vom Philosophen Theodor Adorno über Friedrich Dürrenmatt, den marxistischen Historiker Konrad Farner, den Historiker, Werber und Publizisten Markus Kutter, den «Gammler»-Poeten René E. Müller, den Zürcher Verleger und Buchhändler Theo Pinkus bis hin zum Lehrer, Psychotherapeuten und Schriftsteller Hans Zulliger, um nur einige wenige zu nennen.

Regelmässig kamen auch Randgruppen zu Wort, Rocker, Hippies, Jenische. Früh schon wurde etwa das Unrecht des Hilfswerks «Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute kritisiert. Die «Junkere 37» habe sich als «Ort der Gegenöffentlichkeit» verstanden, als «Berner Hyde-Park, als Podium für alle, für Nonkonformisten und Konformisten, für Leute von den Rändern und für Stützen der Gesellschaft», um nochmals Fredi Lerch zu zitieren. Doch Letztere wussten das eher wenig zu schätzen – und der Staat fichierte die «Kellerprotestler» fleissig.

Die Gegenwart

1970 musste der Tägelleist den Keller an der Junkerngasse verlassen. Im neuen Keller an der Münstergasse 14 wurde noch bis 1975 öffentlich diskutiert. Doch schon in diesen letzten Jahren zeigte sich: Nach insgesamt knapp 1000 Veranstaltungen hatten sich die Nonkonformisten von «Kerzenkreis» und «Tägelleist» überlebt – der Zeitgeist hatte auf die Seite der 68er-Bewegung gewechselt.

Der Altstadt-Untergrund lebt! Nur die Subkultur hat sich davon gemacht.

Barbara Büttner

Und heute? Den Altstadtkellern ist späte Genugtuung widerfahren, ihr historischer und baulicher Wert wurde erkannt. Sorgsam renoviert, sind viele Keller zu kleinen Juwelen geworden. Vor allem entlang den Hauptgassen blüht die Kellerlandschaft. In ihren Geschäften findet man fast alles, Gewürze oder Wein, Abendkleider oder T-Shirts, Trödel, Möbel, Bücher oder Schmuck. Die Zahl der Bars und Kellerlokale mit und ohne Live-Konzerte kommt wahrscheinlich bald einmal an die Kellerschenken-Blütezeit des 18. Jahrhunderts heran.

Die Kellergalerien können weiterhin auf treue Kundschaft zählen. Die Kellertheater, die die städtische Subventionsstreichung überlebten, haben sich dank Gönnerbeiträgen und viel Selbstausbeutung in ihren jeweiligen Nischen eingerichtet. Auch das Kellerkino findet nach wie vor sein Publikum.

Der Altstadt-Untergrund lebt! Nur die Subkultur hat sich davon gemacht. Doch auch das ist wohl Ausdruck des Zeitgeists.