Das A und O der Bildung – Ein rotes Büchlein für 50 Bücherjahre

von Christoph Reichenau 15. März 2022

Es ist etwas grösser als «Die Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung», die «Mao-Bibel», das kleine rote Buch, das 1967 auf Deutsch erschien und 1968 Furore machte, aber im gleichen Rot – das klein-formatige Buch zur Erinnerung an die ersten 50 Jahre der Münstergass-Buchhandlung in Bern. Ueli Riklin und Irene Candinas, welche die Buchhandlung gründeten, Weggefährten und Freunde publizieren aus diesem Anlass ein Buch, in dem das halbe Jahrhundert nachgezeichnet wird. Es erscheint im neu belebten Sinwel-Verlag Bern.

Am Donnerstag, 16. März 1972 um 19:05 Uhr war Eröffnung. Die Buchhandlung für Soziologie startete an der Münstergasse 41, klein und fein, noch nicht ganz fertig. Der als «Buchhandlung für Soziologie» eröffnete Buchladen war von Beginn weg mehr als ein Geschäft – ein öffentlicher Ort der neuen Kultur, des intellektuellen Austauschs und politischen Diskurses, der kontestatären Haltung, der subkulturellen Begegnung und Vernetzung. Es gibt in der Stadt Bern im Dreieck Wissenschaft-Kultur-Politik eine Zeit vor und nach der Eröffnung der Buchhandlung. Deshalb bedeutet Erinnern an den Buchladen auch Erinnern an eine Epoche der Berner Kulturgeschichte. Der Bieler Historiker und Autor Tobias Kästli hat einen informativen, einfühlsamen Text geschrieben, der mit vielen Fotos, Plakaten und Stimmungsbildern reich illustriert und von Bernard Schlup einladend gestaltet ist. Tanja Messerli, ehemalige Buchhandelslehrfrau bei Ueli Riklin und heutige Geschäftsführerin des Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verbands SBVV steuerte ein wunderbar anschauliches Geleitwort bei. 

Die Kultur und das Kaufmännische

Mit minimen Mitteln richteten 1972 Ueli Riklin und Irene Candinas, blutjung aus Zürich kommend, in der unteren Münstergasse nahe der Stadtbibliothek ihre Buchhandlung ein. Sie war sofort ein fester Ort der vielfältigen Bewegtheit Berns. Sie war und blieb aber auch eine Buchhandlung, die in der Entwicklung des Verlagswesens und des Buchhandels idealistisch und professionell einen eigenen Weg ging. Die Buchhandlung spezialisierte sich auf antiquarische Recherche, auf die Auflösung von (auch privaten) Bibliotheken, die bibliographische Beratung von Amtsstellen und Schulen, den Aufbau repräsentativer Bestände (so der deutsch- und englischsprachigen Sektionen der grossen Bibliothek der «Maison de l’écriture» in Montricher VD).

Fundament der gesellschaftspolitischen Ambitionen und Aktivitäten blieb stets die Erdung im täglichen Geschäft, das die Ausrichtung auf Kundenwünsche, Speditivität, Exaktheit und saubere Buchhaltung verlangt. Sinn für das Geschäft und Sinn für das Versprechen der Literatur und das Vertiefen der Wissenschaft schliessen sich nicht aus. Tanja Messerli schreibt: «Die Kultur und das Kaufmännische stehen nicht im Widerspruch. Gerade ein einer unabhängigen Buchhandlung muss von Anfang an beides zusammen vermittelt und verstanden werden.»

Klein und stark wie eine Ameise: Die Münstergass-Buchandlung. (Foto: zvg)

Dies ermöglichte in 50 Jahren, dass sich eine kleine, spezialisierte, mit den Kundinnen und Kunden kommunizierende und kooperierende Buchhandlung trotz Rückgang der Buchverkäufe und zerstörerischem Konkurrenzkampf der Grossen behaupten und auch die Aufhebung der Buchpreisbindung Anfang 2000-er Jahre überstehen konnte. Der Werdegang der Münstergass-Buchhandlung ist ein Beispiel vieler solcher Betriebe, die gerade im Bereich der Kultur bestehen, oft in prekären Verhältnissen, in Selbstverwaltung und oft in Selbstausbeutung.

Die kulturelle Entwicklung im Bern der 1970er Jahre

Als die Buchhandlung für Soziologie startete, konnte man dieses Fach an der Universität Bern nur im Nebenfach studieren. Die Dozenten vertraten weit auseinanderliegende Auffassungen von Gesellschaft und Wissenschaft und der Aufgabe und Methodik der damals neuen Disziplin. Der kalte Krieg war real: kritische Demokratinnen und Demokraten wurden der Subversion verdächtigt. Kurt Marti, Pfarrer an der Nydeggkirche, wurde ein Lehrauftrag verweigert, er schrieb erhellend sein Tagebuch «Zum Beispiel: Bern 1972», ein Mikrogramm der politisch-kulturellen Verhältnisse.

Nach 1968 bildete sich «mit der ‚Neuen Linken‘, eine weitgehend um die Universität konzentrierte, linksradikal-systemkritisch-politische» Bewegung (Fredi Lerch). Es entstand aber auch «als Ausläufer der internationalen Hippie-Bewegung eine kultur-kritisch-lebensweltliche Opposition» (Fredi Lerch). Die viel früher entstandene «Junkere 37», das Forum politicum, das Kellertheater «Die Rampe», der in dieser Zeit an der Gerechtigkeitsgasse 40 gegründete «Kunstkeller» – praktisch ohne öffentliche Förderung entstand damals in Bern neben der Kunsthalle eine Szene, in der Kultur, Wissenschaft, Alltagsgestaltung nicht scharf unterschieden wurden (siehe dazu Inga Häusermann: NIKOLKA. Niklaus von Steiger. Eine bernisch-russische Familienodyssee, Zürich 2021). Die Untergrundkultur und der bürgerliche Nonkonformismus der 1950-er und 1960-er Jahre war ein Nährboden gewesen.

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Literaturzeitschriften, politische Blätter, die Zytglogge-Zytig, Kleinverlage, Manifeste, Kampfschriften, Flugblätter, Plakate, Vorträge, Lesungen, Podiumsgespräche und Demonstrationen waren die Ausdrucksmittel der Zeit. Mittendrin – als Informations-, Sammlungs-, Austauschort – vernetzte die neue Buchhandlung die Menschen und die Szenen. Das Buch war dabei auch eine Chiffre für mehr Wissen, neue Horizonte, einen intellektuellen und politischen Austausch, ein Versprechen auf nicht immer klar Ersehntes.

Der Frauenbuchladen

1968 war die feministische Bewegung erstarkt. Im zweiten Anlauf nach 1959 kam 1971 das Stimm- und Wahlrecht der Schweizer Frauen durch, der Frauenkongress 1975 formulierte die Forderungen der Gleichstellung. Im gleichen Jahr erschien Verena Stefans Buch «Häutungen», das den weiteren Weg zur Gleichberechtigung der Frauen prägte. In der Buchhandlung wurde der Akzent auf Literatur von, für und über Frauen stärker, das Interesse für den Platz der Frauen in der Welt und den Kampf für Gleichstellung. Aus dem von Irene Candinas gesetzten Akzent wurde 1979 bis 2010 eine eigene Buchhandlung.

Umzüge

Zweimal zog die Buchhandlung für Soziologie innerhalb der Gasse um: 1985 an die Münstergasse 35 und später an die heutige Adresse, Münstergasse 33. Mit dem ersten Umzug verbunden war die Umbenennung; die Soziologie und die allgemeine Haltung zu diesem Wissenschaftszweig hatte sich gewandelt, normalisiert und anderseits war sie in keiner Weise mehr bestimmend für das Sortiment, das ohnehin nie eingegrenzt, sonders stets durch die Wünsche der Kundschaft mitbestimmt gewesen war.

Wandel

Ueli Riklin erkrankte in den frühen 2000-er Jahren schwer. Er trat seine Aktien fast vollständig ab, trat als Geschäftsleiter zurück, blieb aber ein paar Jahre noch «Senior Adviser». Heute gehört die Buchhandlung Susanne Bühler und Monika Steiner, die sie auch leiten.

Tobias Kästli, der Autor des Erinnerungsbuchs, bilanziert: «Der Gründer meint, von den ursprünglichen Ideen sei kaum noch etwas übriggeblieben. Die Veränderungen sind aber (…) die Folge eines gewandelten kulturellen und kommerziellen Umfelds. Doch (…) die direkte Beziehung zu den Kundinnen und Kunden wird weiterhin gepflegt, und immer noch ist das Team bestrebt, auch ausgefallenen Wünschen enzgegenzukommen, seltene Bücher zu suchen und rasch zu liefern.»

Was bleibt

Ueli Riklin selber schreibt im Nachwort. «Bücher – so sahen wir Buchhändler und Buchhändlerinnen es – trugen die Samen grosser Veränderungen in sich. Was wir mir Kraft und Engagement an vorderster Front einsetzten – es geschah im Namen der Revolution. Die wehenden Fahnen kündeten vom Neuen.» Und: «Es war der Kern, das A und O der Bildung, die Grundlage allen Wissens, und das Buch ein Erfahrungsgut, das sich erst nach dessen ‚Konsum‘ wirklich nutzbringend entfaltete.»

Der Schriftsteller Jürgen Theobaldy steuert das Gedicht Der Portugiese des Buches bei: «Immer wenn ich / in die Münstergasse einbiege / werde ich zum Seemann, / der die Mündung / des Jangtse erblickt.» Und Tanja Messerli fügt aus der Sicht von Kundinnen und Kunden bei: «Wie der Seemann (…) steuern wir auf die zusammenfliessenden Gewässer zu, um an dieser Stelle endlich zu finden, was im Leben kaum vereinbar ist: Unabhängigkeit und Geborgenheit.»

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Die etwas andere Suchmaschine. (Foto: zvg)