Vor einigen Monaten habe ich eine neue Ausbildung gestartet, an einem neuen Ort, mit neuen Menschen. Alles war neu – und ich entschied mich dazu, nicht unbedingt über politische Dinge zu sprechen – ich würde mich ja bloss nerven. Denn meine Mitstudierenden wären sicher unpolitisch und Diskussionen würden bloss in Sackgassen führen.
In den ersten paar Wochen geschah das wirklich. Ich war geschockt darüber, wie Menschen miteinander und über Patient*innen sprachen. Ableistische Bemerkung und Dick- und Fettfeindlichkeit waren tägliches Brot. Trotzdem regten mich die Gespräche, die ich mithörte, zum Denken an. Wie kommt es dazu, dass (wir) Linke uns untereinander vernetzen und abstrakte, theoretische Diskussionen führen, während sie in anderen Kreisen nicht geführt werden? Warum wird der Ist-Zustand so hingenommen und nicht hinterfragt und problematisiert?
Inwiefern steht es in meiner Verantwortung, als linke, aktivistische und queere Person, andere Menschen aufzuklären und mit ihnen Diskussionen zu führen?
Als queere Person weiss ich, dass es nicht meine Verantwortung ist, andere aufzuklären. Es gibt genügend Lexika und ich bin keines davon. Menschen sind jedoch facettenreich und ich glaube, zu einem gewissen Teil fühle ich mich verantwortlich, mit meinen Mitstudent*innen über gesellschaftskritische Themen zu sprechen.
Als ich die Ausbildung begann, merkte ich schnell, dass viele mehr Vorkenntnisse hatten als ich, aber dass wir alle voneinander lernen können. Genau das sollte auch auf andere Bereiche übertragen werden – Linke haben die Weisheit nicht mit dem Löffel gefressen und können und sollten (!) immer dazu lernen.
Denn zwischenmenschliche Kontakte beginnen genau so: zwischenmenschlich. Durch direkte Begegnungen, im persönlichen Miteinander.
Freund*innenschaft verändert Menschen, denn sie schafft Raum, in dem Kritik nicht als Angriff empfunden wird.
Nachdem ich einige Kontakte knüpfen konnte, bestand auch eine gemeinsame Basis, um zu diskutieren und sich auszutauschen. Als Mitstudierende von schlechten Arbeitsbedingungen erzählten, erzählte ich von Gewerkschaften. Als sie zum x-ten Mal «Behinderung» als Schimpfwort brauchten, fragte ich sie, was sie denn genau damit meinten – und sie wussten es selbst nicht.
Freund*innenschaft kann auch helfen, Menschen zu verändern. Oder anders gesagt: Freund*innenschaft verändert Menschen, denn sie schafft Raum, in dem Kritik nicht als Angriff empfunden wird.
Als ich manchen Personen erzählte, dass mein Ausbildungsort so anders ist als die Orte, die ich bisher gekannt habe, kam der Bubble-Vorwurf. Vom Bubble-Vorwurf halte ich nichts. Er geht etwa so: «Jetzt siehst du endlich, wie die Welt wirklich ist!» oder «Es sind eben nicht alle so LGBT / links / aktivistisch / gesellschaftskritisch /…» Natürlich haben mich der Ort und die Menschen irgendwie überrascht und natürlich denken nicht alle wie ich. Jedoch wäre es gelogen zu sagen, dass ich jetzt nicht wieder in einer Bubble angekommen bin. Und diese, genau wie meine andere Bubble, gehören beide in diese Welt, und beide sind gleich «echt». Denn die «wahre Welt» ist facettenreich und besteht nicht nur aus Diskriminierung. Kleine Utopien und grosse Demonstrationen finden hin- und wieder ihren Platz darin.
Ich wünschte mir, dass es mehr Austausch gäbe und dass mehr Menschen mit diesen wichtigen Themen (in ihrer Ausbildung) in Berührung kämen, die meine Freizeit füllen.
Viele, die nun mit mir in der Klasse sind, haben eine Lehre gemacht und dort wenig bis keine politische Bildung erhalten. Das halte ich für grundlegend falsch.
Denn Bildungsinstitutionen tragen hier eine grosse Verantwortung. Ich hatte das Privileg, an ein Gymnasium zu gehen, und dort Gleichgesinnte zu treffen, spannende Wahlfächer zu besuchen und mit den Lehrpersonen über ihre Bücherwahl zu streiten.
Viele, die nun mit mir in der Klasse sind, haben eine Lehre gemacht und dort wenig bis keine politische Bildung erhalten. Das halte ich für grundlegend falsch. Tools zu bekommen, um Dinge zu kritisieren und hinterfragen, sollte ein Muss sein. Und sich in einem Gesundheitsberuf damit auseinanderzusetzen, welche Bevölkerungsgruppen und welche Minderheiten es gibt, was sie für Bedürfnisse haben und wie respektvoll mit ihnen gesprochen wird, ist unabdingbar.
Dass das nicht gemacht wird, ist einem kapitalistischen Gedankengut geschuldet, das Patient*innen auf einen standardisierten, männlichen Normkörper reduziert und Gesundheitsversorgung vorrangig daran misst, Menschen möglichst schnell wieder arbeitsfähig und produktiv zu machen.
Mindestens seit der Pflegeinitiative wissen wir alle: die Gesundheitsberufe stecken in einer Krise. Wenn wir weiterhin alles unter diese kapitalistische Logik stellen, schadet dies den Patient*innen, den Angestellten, der Gesellschaft. Als aktivistische Person ist es für mich klar, dass ich mich dort einsetze, wo ich bin, sei es an meinem Wohnort, meiner Klasse oder meiner Arbeit. Durch Gespräche oder Diskussionen mit meinen Mitmenschen lerne ich auch neue Perspektiven kennen und erhalte neue Ansätze, um weiterzukämpfen. Deswegen lohnt es sich, diese zu führen.
Lernen wir, uns und einander besser zuzuhören und ziehen wir Bildungsinstitutionen in die Verantwortung, um gute Pflege für alle gewährleisten zu können.